Samstag, 5. Juli 2008

Jazz und Gedanken zur Mitternacht

Dunkel ist es. Sehr dunkel. In der Marktkirche haben sich Nachtschwärmer versammelt und warten auf die zweite Auflage von „Round Midnight“, nachdem sie im vergangenen Jahr erstmals ausprobiert wurde. Um diese Uhrzeit ist die Kirche in der Regel geschlossen, doch im Juli gibt es fünf Mal, immer donnerstags, eine Ausnahme. Dann laden Bianca Schamps, Martin Schneider und Hanns Höhn zu Jazz und Gedanken ein. Dass sich beides gut verbinden lässt, ist schnell klar. In beiden Fällen, so stellt sich später heraus, geht es um Fragmente und Anstöße. Die Mitternacht ist nach dem Konzert nicht vorbei, sondern sie beginnt. Dann lassen sich musikalische Phrasen und literarische Anstöße auf dem Heimweg und darüber hinaus weiter spazieren tragen.


Fantasie ist gefragt, in einem Moment, in dem das Hirn bei den meisten Menschen eigentlich beginnt, langsam auf Sparflamme umzuschalten und sich auf den verdienten Schlaf vorzubereiten. Vielleicht sind Martin Wagner (Akkordeon) und Hanns Höhn (Kontrabass) deshalb zunächst so behutsam, vielleicht ist es ihr Verständnis für die späten Gäste, die ihrem Organismus erst klar machen müssen, dass es noch ein wenig dauert, bis aus den harten Kirchenbänken weiche Federbetten werden. Es lohnt sich, wach zu bleiben. Nachdem sich Wagner und Höhn sanft durch die Ohren in die Köpfe ihrer Zuhörer hineingeflüstert haben, tritt Martin Schneider in den Altarraum.


Seine Stimme verlässt ihn in den riesigen Klangraum hinein, er horcht seinen Worten ein wenig hinterher, gewöhnt sich daran, mehr zu hören, als er sagt. Es sind Ausschnitte aus Robert Walsers „Kleinen Dichtungen“, oder Alfred Polgars „Kleinen Schriften“, die er ausgesucht hat – der Titel dieser Veranstaltung heißt „East of the sun“ und dazu passen diese Zeilen. Wenn Bianca Schamps mit Ingeborg Bachmann die Sonne verehrt, gerät man ins Schwärmen. Wie erschreckend dann die letzte Zeile, in der vom „unabwendbaren Verlust meiner Augen“ die Rede ist. Wagner und Höhn improvisieren zu bekannten Melodien wie „Morning has broken“ oder den Evergreen „Sunny“. Das wohlige Bassknurren und das vertrauliche Knarren des Akkordeons vermischen sich schnell, die beiden Musiker setzen sich intensiv mit der Musik auseinander. Mal treiben sie sich gegenseitig an, mal necken sie sich spielerisch mit ihren Ideen. Zum Schluss lassen sie den Blues erzählen.


Dass jeder seinen Süden braucht und damit weder Länge- noch Breitengrad meint, hat Bianca Schamps mit dem Schweizer Iso Camartin heraus gefunden. Die Gedanken, nicht mehr zu wollen, als man kann oder durch Liebreiz mutig zu werden, sind Momentaufnahmen, die in dieser Atmosphäre gut funktionieren. Und wer sie zu Hause wiederbeleben möchte, hat nach „Round Midnight“ eine kleine Literaturliste zur Anregung in der Tasche.


Nächste Veranstaltung: 10. Juli, 22.30 Uhr: „That old devil moon“ mit Katharina Debus (Gesang) und Hanns Höhn (Bass)



Veröffentlicht im Wiesbadener Kurier / Wiesbadener Tagblatt. Foto: wita / Uwe Stotz

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