Montag, 30. Januar 2006

Bizets "Carmen" in Wiesbaden

Wer ist eigentlich Don José? Das ist wohl die zentrale Frage, die sich Hermann Schmidt-Rahmer bei seiner Inszenierung von Georges Bizets „Carmen“ im Wiesbadener Staatstheater vor allen anderen gestellt hat. Denn der scheiternde Sergeant ist es, dem seine Hauptaufmerksamkeit gilt, seine Wünsche und vor allem seine Träume. „Was wäre, wenn...?“ – das quält ihn bis tief in die Nacht hinein. Denn Don José hat in Wiesbaden Chance um Chance vertan und versucht nun, sich mittels einer Fantasiewelt wieder alles zurecht zu rücken. Ebenfalls vergeblich.

Während noch die Ouvertüre erklingt sieht man ihn gemeinsam mit Micaela ins Ehebett steigen, das Paar hat drei Kinder und wohnt gemeinsam mit seiner Mutter im biederen Idyll. Im Schlaf bricht dann alles hervor. Wie er in seiner Sergeantenstube saß und den Fabrikarbeitern hinterher starrte, wie er beinahe die Liebe der schönen Carmen besessen hatte, wie sie ihm in der Stierkampf-Arena zugejubelt haben und wie es ihm gelungen ist, die wilde Zigeunerin in der Küche zu domestizieren. All das ist Hermann Schmidt-Rahmer der Rahmen für bisweilen bizarre Szenen und groteske Überzeichnungen.

So sticht Don José mehrfach auf seinen Widersacher Escamillo ein, ohne dass der davon Notiz nimmt, erschossene Schmuggler stehen einfach wieder auf. Auch die Figur von Don Josés Mutter, die in der Oper eigentlich nicht vorkommt, geistert im weißen Nachthemd herum. Dass dem Premierenpublikum spätestens deren Verscharrung im dritten Akt Anlass für ein aufgeregtes Buh-Konzert Anlass gibt, lässt sich eigentlich nur mit dem Unwillen erklären, Schmidt-Rahmer in seiner Inszenierung folgen zu wollen. Denn im Grunde genommen geht seine Deutung absolut auf. Er verzichtet weitestgehend auf grelle Auswüchse, lässt seine Figuren immer schlüssig miteinander in Aktion treten. Etwas gewöhnungsbedürftig sind freilich die deutschen Sprechtexte auf Grundlage der Dialogfassung von Fritz Oeser in einer eigenwilligen und arg flapsigen Übersetzung des Regisseurs.

Musikalisch wird dem Stück jedenfalls keine Gewalt angetan. Aus dem Orchestergraben hat man zwar in Wiesbaden schon Lebhafteres gehört, doch auch unter der Leitung des französischen Dirigenten Emmanuel Joel beschränkt sich das Staatsorchester nicht auf bloße Kommentierung des Geschehens sondern nimmt aktiven Anteil daran. Alfred Kim, der mit reinem und schlackenfreiem Tenor auffällt, wird später zurecht umjubelt, scheint jedoch mimisch bisweilen etwas unbeteiligt. Als Carmen überzeugt Milana Butaeva in einer grandiosen Mischung aus Inbrunst und Betörungskunst sowohl in ihrer Stimme als auch in ihrem Auftreten. Sharon Kempton verleiht in gewohnt souveräner Form und mit einem interessantem Kontrast aus strahlendem Sopran und fahlem Erscheinungsbild der Micaela ein geschlossenes Profil.

Auch in den kleineren Rollen hat das Staatstheater etwa mit der stimmlich und darstellerisch überaus leistungsfähigen Betsy Horne (Mercédès) oder dem solide agierenden Axel Wagner (Zuniga) ein ansprechendes Arrangement getroffen. Dem Opern-, Extra- und Jugendchor (Einstudierung durch Thomas Lang) gebührt ein besonderes Lob für deren ausgesprochen flinken und stets treffenden Einsätze.

Veröffentlicht im Main-Echo aus Aschaffenburg