Montag, 31. März 2008

Massenets Werther am Mainzer Staatstheater

Werther ist auch Unterhaltung. Zu diesem Schluss ist offensichtlich Regisseurin Tatjana Gürbaca gekommen. Schon vor der Premiere hatte sie darüber gesprochen, dass die Handlung der Oper „erstaunlich alltäglich“ sei und so findet der Mainzer Theaterbesucher einiges wieder, was so auch tagtäglich in deutschen Familien stattfindet. Familienvater und Witwer Le Bailli versucht, sein halbes Dutzend Kinder in Schach zu halten, das im Sommer Kinderlieder trällert und Besuch mit einer Stofftier-Kanonade verabschiedet. Zähmen lässt sich die Brut nur von der großen Schwester Charlotte, die als Mutter-Ersatz herhält und sich nun seit langem ihren ersten freien Abend gönnt – freilich nur mit schlechtem Gewissen.

Kurz vor ihrer Hochzeit und dem damit verbundenen bürgerlichen Leben gerät sie an den schwärmerischen Dichter Werther. Er schafft es, die in ihr schlummernden Sehnsüchte nach unverstellter schrankenloser Liebe zu wecken. Doch die Vernunft siegt und sie verbannt den verhinderten Geliebten. Mehr noch, sie lässt zu, dass ihr Mann zum unwissend-wissenden Helfershelfer für Werthers Selbstmord wird. Nur in dessen Todesstunde ist sie für einen Moment bereit, sich ganz zu dieser Liebe zu bekennen.

Tatjana Gürbaca hat in ihrer Einheitsbühne mehrere Ebenen aufgezogen, zeigt Kinderzimmer mit Stockbetten, die Tristesse des Alters und kehrt Charlottes emotionale Vereinsamung vor eine leer geräumte Kulisse. Dazwischen agieren ihre Personen sehr klar geschnitten, manche von ihnen schon fast im leicht überspitzten Stil von Daily-Soap-Darstellern. Tatsächlich wirkt alles irgendwie alltäglich und nah.

Musikalisch und szenisch ist diese Aufführung deutlich das Beste, was das Mainzer Staatstheater seit dem Intendantenwechsel geboten hat. Das Ensemble ist leistungsbereit und gut in Form. Sergio Blazquez gibt stimmlich überlegen, szenisch etwas steif, den Werther, Patricia Roach changiert als Charlotte authentisch zwischen ihren Gefühlen. Tatjana Charalgina fällt als jüngere Schwester Sophie auf dem spannenden Grat zwischen kindlichem Äußerem und einer erstaunlichen klanglichen Strahlkraft mit großer Spiellust auf. Richard Morrison legt den Albert mit sanftmütiger Leidenschaft an. Wattig säuselnde Streicher schließlich sind nur ein Aspekt der vielen atmosphärisch ausgezeichnet gelungenen Momente, die Thomas Dorsch aus dem Orchester hervor zaubert.


Veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse

Donnerstag, 27. März 2008

Premierenvorgespräch zu Massenets "Werther" in Mainz

Es gibt Stoffe, die sind einfach für die Oper gemacht. Goethes Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ gehört nicht dazu. So dachten und denken zumindest die Komponisten. Die einzige Ausnahme, die der relativ undramatischen Gestalt des Werther eine Funktion in der Oper zugestand, war der Franzose Jules Massenet. Der jüngste Sohn einer großen Offiziersfamilie war Schüler von Charles Gounod und hatte bereits fünf Opern geschrieben, als sein „Werther“ 1892 in Wien uraufgeführt wurde. „Diese aufwühlenden Szenen, diese fesselnden Bilder“, soll er begeistert ausgerufen haben, als er den Text 1885 zum ersten Mal in den Händen hielt.

Massenet ist es tatsächlich gelungen, die Figur des Werther aus seiner dramaturgischen Isolation zu lösen und zum Akteur innerhalb eines verzwickten Beziehungsgeflechts zu befördern. Zwar wird auch hier aus dem Leidenden kein übermäßig Handelnder, doch durch die Aufwertung anderer Figuren gewinnt die Geschichte an für die Oper geeigneter Substanz. In Mainz wird das Werk nun von der jungen Regisseurin Tatjana Gürbaca inszeniert, die bereits im vergangenen Juni Donizettis „Lucia di Lammermoor“ für das Staatstheater eingerichtet hat.

Die Theatermacherin findet den Perspektivenwechsel spannend, den der Komponist vorgenommen hat. „Werther steht nicht mehr allein im Mittelpunkt, Charlotte wird mindestens genauso wichtig“, sagte sie im Premieren-Vorgespräch. „Eigentlich könnte die Oper auch Charlotte und Werther heißen“, ist sie überzeugt. Charlotte ist in der Oper hin- und hergerissen zwischen pflichtschuldig eingegangener Ehe mit Albert und dem Reiz, der den künstlerischen Werther für sie interessant macht.

Tatjana Gürbaca erzählt die Geschichte einer Frau, die zwischen allen Welten steht. Während sie im ersten Akt noch unbeschwert mit dem schwärmerischen Werther auf den Ball geht, erlebt sie im zweiten Akt bei einer Goldenen Hochzeit das Korsett der bürgerlichen Familie. „Die junge Frau steht an einem Scheideweg“, erkennt die Regisseurin und lässt ihre Figuren genau diesen Konflikt austragen.

Ihrem Mainzer „Werther“ hat Tatjana Gürbaca eine „Zeitfreiheit“ verordnet. Die Kostüme von Marc Weeger und Silke Willrett lehnen sich an der heutigen Mode an, lassen aber eine „Traumfähigkeit“ zu, so zumindest beschreibt es die Regisseurin. Und obwohl Massenet für seine Oper eigentlich viele unterschiedliche Räume fordert, wird es in Mainz eine Einheitsbühne über alle vier Akte hinweg geben. Gürbaca verspricht allerdings einen „trickreich gebauten Raum“, der auf die Psychologie der Oper eingeht. Mitunter seien sogar surreale Bilder möglich.

  • Für die Premiere am 29. März um 19.30 Uhr sind noch Restkarten an der Abendkasse erhältlich.
  • Weitere Aufführungen finden am 8., 13., 20. und 30. April statt.
  • Die musikalische Leitung hat Thomas Dorsch
  • Kartentelefon: 06131/2851-222
Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz

Mittwoch, 26. März 2008

Schuberts "Winterreise" mit Alice Coote und Julius Drake in Frankfurt

Franz Schubert und Wilhelm Müller haben mindestens zwei Dinge gemeinsam. Beide wurden nur etwas über dreißig Jahre alt und hatten einen Hang zur Melancholie. Dichterworte inspirierten den Komponisten zur „Winterreise“, einem der wohl eindrucksvollsten Liedzyklen der Geschichte. In der Frankfurter Oper waren damit nun die Sopranistin Alice Coote und der Pianist Julius Drake zu hören.

Zunächst wirkt die Sängerin fast verschüchtert, als ob sie sich geniere, das gewichtige Werk vorzutragen. Doch es ist eine ganz besondere Annäherung. „Fremd bin ich eingezogen“, singt sie die erste Zeile und es wirkt in dem Moment, als würde sie damit beginnen, ihre eigene Geschichte zu erzählen. Erst ein wenig scheu, dann immer sicherer und klarer formuliert. Julius Drakes zunächst kultivierte Beiläufigkeit festigt den Eindruck, täuscht aber nicht über die wohl überlegte Gestaltung hinaus.

Alice Coote, das merkt man bald, empfindet die kurzen Gedichte mit jeder Faser ihres Körpers nach. Sie unterstreicht ihren Vortrag mit harten Konsonanten, Die Zeile „Ei Tränen, meine Tränen“ singt sie kaum mehr, sondern spricht sie. Vorher hat Drake die Tränen sacht herunter tropfen lassen. Beide Künstler sprechen ihre Zuschauer mit großer Emotionalität direkt an. Verzweifelt und rastlos findet sich Alice Coote in der „Erstarrung“ wieder, begleitet ihren Vortrag mit einem geradezu irren Blick. Dann die geheimnisvolle Ruhe im „Lindenbaum“, die für einen kurzen Augenblick von einem Sturm unterbrochen wird, der sich doch bloß als kurzes Aufbäumen entpuppt. Hier wird ganz besonders deutlich, wie geschickt das Duo die Spannung weit über den jeweiligen Vortrag hinaus halten kann.

Drake sorgt für die Atmosphäre, lässt unruhige Bäche rauschen und Hähne krähen, seine dynamischen Kunstgriffe verblüffen immer wieder aufs Neue. Geradezu verstörend endet das Duo mit dem „Leiermann“, lässt das Publikum nach einem halb geflüsterten Vortrag fassungslos zurück.

Veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse

Der Bariton Eike Wilm Schulte über das Singen

Eigentlich war es ein großer Zufall, dass Eike Wilm Schulte Sänger wurde. Als Kind erhielt er Klavierunterricht bei einem Lehrer, der den Chor der Musikhochschule Köln leitete. Im Unterricht beschäftigten sie sich auch mit der Liedbegleitung, irgendwann hat er selbst angefangen, Schubert-Lieder zu singen. Mit 19 Jahren zog es ihn als Student an die Musikhochschule. Schon vor dem Stimmbruch habe er eine sehr voluminöse Stimme gehabt, sagt er. Doch die musste erst einmal richtig ausgebildet werden. Bei Schulte, der mittlerweile an allen großen Opernhäusern gesungen hat und derzeit wieder an der weltberühmten Metropolitan Opera New York singt, verlief die Ausbildung reibungslos und im Rekordtempo. Gerade einmal vier Jahre hat er gebraucht. „Ich habe im Schnellverfahren studiert“, sagt er heute rückblickend aber ohne Reue. Denn ihm und seiner Stimme hat das nicht geschadet.

Zu seinem Glück gehörte, dass er in die Hände fähiger Lehrer kam. Vor allem dem Kammersänger Josef Metternich verdankt er viel. „Er hat die Stimme fokussiert und einen Stimmsitz geformt“, erinnert er sich. Wie bereitet er sich heute vor, wenn er auf die Bühne geht? „Das Einsingen ist ganz besonders wichtig“, betont er. „Viele Sänger machen das nicht“, weiß er aus seiner jahrzehntelangen Erfahrung. Er nennt das „die Stimme wach machen“. Vor großen Partien beschäftigt er sich den ganzen Auftrittstag lang damit. Er erinnert sich an die Texte, geht den Part exakt durch. Auch dann schon kümmert er sich um sein Instrument. „Summen ist sehr gut für die Stimme“, so seine Erfahrung.

Den Beruf des Sängers sieht er ständiger Entwicklung unterzogen. „Wir müssen mindestens 150 Prozent Einsatz zeigen“, sagt er. „Nur 100 Prozent würde Stillstand bedeuten“, so seine Überzeugung. Zu den wichtigsten Ressourcen des Sängers gehört seine Gesundheit. Die kleinsten Anzeichen einer Krankheit müssen frühzeitig erkannt und bekämpft werden. „Wenn ich einen Infarkt bemerke, habe ich sofort ein gutes Mittel“, sagt er. Seine „Mittelchen“ habe er immer dabei, worum es sich dabei genau handelt, bleibt aber sein Geheimnis. Doch schon so mancher Kollege ist in diesen Genuss gekommen und konnte trotz anfänglicher Bedenken doch noch auf die Bühne. „Ich habe in meinem ganzen Leben vielleicht drei Mal eine Vorstellung absagen müssen“, sagt der Bariton stolz. Außerdem sei er schon 30 Jahre nicht mehr beim Arzt gewesen. „Ich kenne meine Stimme“, ist er überzeugt.

Eike Wilm Schulte ist mit Leib und Seele Sänger. Zwei Professuren und die damit verbundene bürgerliche Sicherheit hat er bereits abgelehnt. An der Musikhochschule Frankfurt hat er einen Lehrauftrag und ist stolz darauf, bereits mehrere seiner Studenten in ein Engagement gebracht zu haben. Er bringe ihnen vor allem die „Normalität des Singens“ bei, sagt er. Im Unterricht theoretisiert er nicht, sondern macht das, was er von seinen Schülern fordert, selbst vor. „Das ist für mich die beste Methode“, so sein Credo. Von abstrakten Anweisungen wie „Gaumensegel acht Grad Ost“ oder „Ton nach innen abstützen“ hält er nichts. Die Lehrtätigkeit ist für ihn nicht das Wichtigste im Leben „Ich will singen“, betont er unbeirrt. Manchmal kommen gestandene Sänger zu ihm, um sich einen Rat zu holen, meist geht es dabei um die Gestaltung bestimmter Rollen. „Das mache ich dann gerne“, sagt Eike Wilm Schulte.

Jungen Sängern empfiehlt er generell, älteren Kollegen vorzusingen, die sich bewährt haben. „Die haben eine Technik, die überlebt hat“, ist er sicher. Die Nachwuchs-Talente bedauert er indes für die seiner Ansicht nach nachteiligen Entwicklungen in den Theatern. Er beklagt, dass das Ensemble-Theater kaum mehr gepflegt werde. Oft komme es nur noch darauf an, einen jungen Sänger möglichst vielseitig verwenden zu können, um ihn dann nach wenigen Jahren weiter zu schicken. „Man kann auf gewisse Sänger-Persönlichkeiten nicht verzichten“, glaubt er und kritisiert die Haltung vieler Intendanten, die keinen Wert mehr darauf legten, solche Persönlichkeiten heran zu ziehen und zu halten. Er selbst ist seinerzeit nach Wiesbaden gegangen, weil es für ihn ein „Sänger-Theater“ war. Damals, so erinnert er sich gerne zurück, konnte man sogar Wagners „Ring des Nibelungen“ durchgehend mit eigenem Personal doppelt besetzen. Heute kommt man nirgendwo mehr ohne Gäste aus.

„Man muss einen jungen Sänger auf die richtige Bühne bringen“, fordert er. Denn wenn er wochenlang nur im Zimmer sänge, sei er noch lange nicht reif für die Bühne. Außerdem plädiert er dafür, dass sich Sänger nur von Lehrern des gleichen Stimmfachs ausbilden lassen sollten. „Ein Bariton muss zu einem Bariton gehen“, so seine Ansicht. Nur der könne seinem Schüler den richtigen Weg weisen. „Ich wurde in die richtige Richtung gelenkt“, ist er seinen Lehrern aus Köln und Salzburg noch heute dankbar. An den Städtischen Bühnen in Bielefeld, wo er sein erstes Engagement bekam, konnte er sich mit 25 Partien „frei singen“, wie er es nennt. „Man lernt am besten durch Praxis“, erklärt er.

Eike Wilm Schulte hat nie über sein Fach hinaus gesungen. „Mir ging es immer um den Stimmerhalt“, sagt er. Die Stimme dürfe man nicht überfordern, ist er fest überzeugt. Und auch trotz seines weltweiten Erfolgs und der jahrzehntelangen Erfahrung gibt es auch für ihn immer noch Neuland zu entdecken.


Veröffentlicht in "Extra" - monatliche Beilage der Verlagsgruppe Rhein-Main

Montag, 17. März 2008

Europachorakademie mit Bachs Johannes-Passion

Die kleine Besetzung erwies sich als eine kluge Entscheidung. Joshard Daus hat aus der Europachorakademie einen schlanken Kammerchor herausgeschält und samt Mendelssohn-Symphonia eine pointiert formulierte Johannes-Passion einstudiert. Im Kurhaus erklang Bach in fast asketischer Klarheit. Daus legte Wert auf sauber geschnittene Formen und gut nachhörbare Strukturen, verzichtete auf plakative Effekte. Dynamische Gegensätze wurden auf ein Minimum reduziert, ohne Gleichförmigkeit zu provozieren. Im ungewohnt langsamen Einstiegschor „Herr, unser Herrscher“ und bei der streng disziplinierten Aufgeregtheit von „Bist du nicht seiner Jünger einer“ gewöhnte sich der Zuhörer an vornehme Zurückhaltung. In den Chorälen gefiel der Chor mit homogener und gefühlvoller Gestaltung, das Orchester begleitete unaufdringlich, zeigte dennoch Präsenz. Bei den Solisten hat der Evangelist die größte und gleichzeitig undankbarste Aufgabe zu bewältigen. Thomas Dewald (Tenor) gelang es, einen spannend erzählten Bericht abzuliefern, den er kraftvoll und energisch mit klanglichen wie dramatischen Spannungsbögen versah. Die reine, helle Mezzostimme von Fredrika Brillembourg in der Altpartie passte zu dem fein aufgezogenen Gesamtkonzept deutlich besser als der etwas zu üppig dimensionierte Sopran von Fionnuala McCarthy. Karsten Mewes (Bass) gelang es in den Jesusworten hingegen, sein sattes Volumen zu fokussieren, auch Hans Christoph Begemann (Bariton) stellte seinen Part angemessen in den Kontext.


Veröffentlicht u.a. im Wiesbadener Kurier

Bergkirchen-Kantorei Wiesbaden und der Saxophonist Rainer Heute mit gemeinsamem Programm

Im vergangenen Jahr trafen sich die Ministerpräsidenten in Kloster Eberbach und die Kantorei der Bergkirche sang das „Miserere“ von Gregorio Allegri. Dazu spielte der Saxophonist der Bigband des Hessischen Rundfunk, Rainer Heute, freie Improvisationen. Diesen experimentellen Charakter einer Momentaufnahme führte die Kantorei unter der Leitung von Christian Pfeifer nun im eigenen Haus konsequent fort. Mal jazzig pointiert, mal als nachdenkliche Meditation wagte sich Heute immer wieder als Zwischenrufer an die Chorwerke heran. Der weiche Klang des neunstimmigen „Miserere“ inspirierte ihn dabei zu weit angelegten Umspielungen und eindringlichen Kommentaren. Ausufernde Intervall-Sprünge begleiteten das „Ave verum Corpus“ von William Byrd, wodurch ein spannender Dialog entstand, der vom Chor schlagfertig aufgenommen wurde. Ohnehin zeigte sich die Kantorei an diesem Abend in bester Verfassung. Wirkungsvoll fielen saubere Intonation und dynamische Spannung im berühmten „Locus iste“ von Anton Bruckner ins Gewicht, auch das ausgewogene Stimmenverhältnis trug sehr zum Gelingen bei. Die nicht immer einfach zu singenden Harmonien in Francis Poulencs „Timor et tremor“ gaben die Sänger souverän wider, mit viel Gefühl näherten sie sich dem sechsstimmigen „Abendlied“ von Josef Gabriel Rheinberger. Eingerahmt wurde das Konzert von Bachs Praeludium und Fuge f-Moll BWV 534, die Ringkirchen-Kantor Hans Kielblock farbig registrierte.


Veröffentlicht im Wiesbadener Kurier

Montag, 3. März 2008

Singer Pur bei den Gallus-Konzerten in Flörsheim

Die Besetzung ist genau so ungewöhnlich wie das Repertoire. Drei Tenöre, ein Bariton und ein Bass singen gemeinsam mit einer Sopranistin A-Capelle-Werke des 16. Jahrhunderts und der unmittelbaren Gegenwart. Finden dabei sogar neben all den auffallenden Kontrasten noch Gemeinsamkeiten, die ein Konzert zu einer absolut runden Sache werden lassen. „Singer Pur“ ist Garant für vokale Qualität auf höchstem Niveau und steht gleichzeitig für zeitgemäße wie historisch seriös recherchierte Darbietungen. Dem außergewöhnlichen Sextett gelingen Kombinationen und musikalische Wege, die anderen erst gar nicht in den Sinn kommen würden. Mittlerweile schreiben Komponisten wie Wolfgang Riehm manche ihrer Werke speziell für „Singer Pur“.

Mit ihrem besonderen Repertoire und ihrer unverwechselbaren Interpretation haben sie sich mittlerweile ein großes Publikum gesichert, auch die Fachwelt ist regelmäßig von den CD-Einspielungen der Regensburger Domspatzen samt eingemeindeter Ostwestfälin begeistert. Stattliche zwölf Silberlinge sind in den vergangenen 17 Jahren entstanden, darunter haben es zwei zu Echo-Preisträgern gebracht. Den vokalen Ritterschlag erhielt die Gruppe spätestens durch die Zusammenarbeit mit dem szenebestimmenden Hilliard-Ensemble.

Für die Gallus-Konzerte stellte die Einladung von „Singer Pur“ eine echte Premiere dar. In den 28 Spielzeiten der Reihe war noch kein einziges A-Capella-Ensemble zu hören gewesen. Höchste Zeit also. Dass dabei gleich bei den führenden Gruppierungen gesucht und gefunden wurde, spricht für das kontinuierliche Qualitätsbewusstsein der Flörsheimer Kulturvermittler.

„Memento“ heißt die aktuelle Produktion von „Singer Pur“, die aus der Konzerterfahrung entstanden ist. Geistliche und musikalische Klammer ist die Messe „Quare tristis es“ (zu deutsch etwa: „Wie kannst Du noch trauern?“) des franko-flämischen Komponisten George de la Hele (1547-1586). Dazu gesellen sich Stücke aus dem 21. Jahrhundert, auch zwei der vor sieben Jahren entstandenen „Sieben Passionstexte“ von Riehm sind dabei. Wenn sich einzelne Stimmen von „Singer Pur“ erheben, andere wieder verklingen, ergibt das immer wieder ein perfektes Zusammenspiel, in dem sich eine große musikalische Reinheit wiederspiegelt.

Besonders fällt die schlanke Durchsichtigkeit auf, die das Ensemble in unterschiedlichen Abstufungen kultiviert hat. Jede einzelne Stimme ist dabei wahrnehmbar, ohne dabei isoliert zu wirken oder gar den klug ausgeloteten Gesamtklang infrage zu stellen. Unwirklich schwebende Charaktere wie dynamisch bewegliche Passagen werden immer wieder aufs Neue sorgfältig modelliert. Spannungsvolle harmonische Reibungen sind inbegriffen und das nicht nur in den zeitgenössischen Kompositionen. Claudia Reinhard, Klaus Wenk, Markus Zapp, Manuel Warwitz, Reiner Schneider-Wartenberg und Marcus Schmidl haben wieder einmal bewiesen, wie lebendig alte Musik sein und wie gut eine Reflexion an aktuellen Kompositionen funktionieren kann.


Veröffentlicht in der Main-Spitze

Sonntag, 2. März 2008

Das Litauische Staats-Sinfonieorchester in Rüsselsheim

Das Baltikum gilt nicht gerade als Kaderschmieder für klassische Musik. Zwar haben sich hier wichtige Komponisten wie Richard Wagner, Jean Sibelius oder Edvard Grieg zwischenzeitlich inspirieren lassen, auch die Mittlerfunktion dieser Region zwischen Russland und Europa ist beachtenswert. Doch denkt man über herausragende Künstler und Kompnisten nach, fallen einem spontan bestenfalls der estnische Kompnist Arvo Pärt, sein lettischer Kollege Peteris Vasks oder dessen Landsmann, der Cellist Mischa Maisky ein. Daher stellt die Begegnung mit dem Litauischen Staats-Sinfonieorchester von vorne herein schon einmal ein lohnenswertes Ereignis dar.

Für ein Orchester blickt der Zusammenschluss der talentiertesten Musiker des Landes auf eine sehr junge Geschichte zurück. Erst 1988 wurde Gintaras Rinkevicius damit beauftragt, ein Orchester zu gründen. Diesem steht er noch heute als Chefdirigent vor. Seit seiner Gründung widmet sich das Litauische Staats-Sinfonieorchester den großen Werken der Literatur, hat Mahlers achte und Beethovens fünfte Sinfonie erfolgreich aufgeführt. Auch Opernproduktionen wie Wagners „Fliegender Holländer“ und die „Salome“ von Richard Strauss wurden absolviert. Rinkevicius bekam die Pionierarbeit von seinem Land öffentlichkeitswirksam gedankt. Er erhielt den Nationalpreis der Republik Litauen, den den Nationalen Musikpreis und den „Orden von Gediminas“, der an den Großfürsten erinnert, unter dessen Regentschaft Litauen im 14. Jahrhundert zu einer bedeutenden Regionalmacht aufstieg.

Nun stand das Orchester auf der Bühne des Rüsselsheimer Stadttheaters. Auffallend schon gleich zu Beginn ist der samtig weich kultivierte Streicherklang. Der macht sich in Michail Glinkas Walzer-Fantasie h-Moll mit ihrem humorig-melancholischen Gestus besonders gut, funktioniert aber auch in der ersten Sinfonie von Johannes Brahms hervorragend. Rau und robust können die Streicher dann werden, um sich in sanfteren Passagen aber auch wieder auf ihre innige Wärme zu besinnen.

Gintaras Rinkevicius erweist sich im Klavierkonzert a-Moll op. 54 von Robert Schumann als ein geschickter Lenker und aufmerksamer Mittler zwischen Orchester und Solist. Der erst 24-jährige Pianist Victor Emanuel von Monteton macht einen sehr überlegenen Eindruck und bringt alle technischen Voraussetzungen mit, um sich dieser Aufgabe zu stellen. Überraschenderweise nimmt er den Einstieg recht langsam, gewinnt aber schnell an Fahrt und gefällt rasch mit perlenden Läufen und zunehmender Kraft im Gesamtklang.

Mitunter wirkt er allerdings etwas unvorbereitet – auch der ungewöhnliche Umstand, dass er nicht auswendig spielt, lässt darauf schließen. Seine beeindruckenden Leistungen jedoch schmälert diese Empfindung nur selten. Das Orchester ist hier mit filigranen und präzise formulierten Einwürfen präsent, rhythmisch überzeugen Wandlungsfähigkeit und Flexibilität. Die sanglichen Momente im Andantino grazioso tragen dazu bei, die mitunter gewollte Beiläufigkeit des Solos zu umspielen.


Veröffentlicht in der Main-Spitze