Dienstag, 4. Oktober 2005

Berios "Passagio" und "Tre Donne" als Uraufführung am Nationaltheater Mannheim

Was macht ein Theater, wenn es sich neu positioniert? Es setzt auf altgediente Erneuerer. Zumindest in Mannheim scheint das am Nationaltheater ein wenig so zu sein. Regula Gerber ist seit dieser Spielzeit neue Generalintendantin, auch der Generalmusikdirektor Frédéric Chaslin und Operndirektor Klaus-Peter Kehr machen sich hier neu ans Werk. Chaslin kennt die großen Bühnen der Welt, steht in den Staatsopern Wien und München regelmäßig am Pult, war Chef des Jerusalem Symphony Orchestra, dirigiert in Paris und New York, ist auch der Deutschen Oper Berlin seit Jahren verbunden.


In Mannheim steht er nun vor einem geschrumpften Ensemble aus einer Handvoll Streicher und Bläser, dafür fünf Perkussionisten und muss eine einzelne Sängerin und zwei (meist deklamierende) Chöre in Schach halten. „Passagio“ von Luciano Berio steht auf dem Programm. Eine Nicht-Oper, in der ein Chor zwischen den Premierengästen verstreut sitzt und sich Wortfetzen zuschreit, ein anderer brav im Orchestergraben agiert. Ach, und die Frau auf der Bühne sehr unzusammenhängend aber sehr expressiv stammelt, schreit, singt. 1963 war das ein Skandal an der Mailänder Piccola Scala. In Mannheim halten es nur zwei Besucher nicht aus und gehen. Vor 40 Jahren schrie das Publikum irgendwann herum, hier machte sich jemand einen Scherz daraus, manchmal die Gesten des Chores nachzuahmen. So ändert sich das eben. Die Frau auf der Bühne übrigens beschreibt einen modernen Kreuzweg. Sie leidet unter verschiedenartiger Gewalt, wird verhaftet, gefoltert und verkauft. Während aus dem „Publikum“ die fiktiven oder vom Opfer selbst erzählten Misshandlungen gutgeheißen und legitimiert werden („Denn in uns ist die Ordnung“), ergreift der Chor im Graben Partei für sie oder übernimmt den Erzählpart. Sie werden gemeinsam mit der namenlosen „Sie“ ein gemeinsames Ich.

Die eigentlich lyrische Sopranistin Deborah Lynn Cole nimmt sich ihrer Rolle in gewinnbringender Art an. Dass sie sich nicht der Verlockung hingibt, in großen Übertreibungen zu leiden, ist ihr und ist dem Regisseur dieser deutschen Erstaufführung, Joachim Schlöner hoch anzurechnen. Es sind ihre ganz klaren, präzisen mimischen und gestischen Ausformungen, die sie authentisch wirken lassen. Die schwarze Bühne von Jens Kilian wird von Andreas Grüther mit kaltem Neonlicht ausgeleuchtet, ein Effekt, den Regula Gerber später als Gegensatz zur musikalischen Farbigkeit Berios deutet. Von ihr stammt auch das Wort von der „zeitgenössischen Musik als Genuss“. Und sie hat Recht damit. Unterhaltsam war das.

Kein Skandal. Hübsch arrangiert später auch die drei Sequenzen von Berio, die Joachim Schlömer szenisch zusammengeführt und somit zur Uraufführung geadelt hat. „Tre Donne“ nennt er das und es tauchen, klar, drei Frauen auf, die kaum in Interaktion treten. Erst im letzten Bild, der „Sequenza III für weibliche Stimme“, die auf „Sequenza IV für Klavier“ und Sequenza VII für Oboe“ folgt, finden sich Tänzerin (Marie Pires), Stumme (Deborah Lynn Cole) und Sängerin (Sarah Maria Sun) in einem Boxring zwischen den Zuschauerplätzen wieder. Anfangs noch beobachtet ein zur Untätigkeit verdammter Chor, krawallend aber (auch akustisch) abgeschottet in einem Glaskasten, die Szenerie. Das Individuum siegt, steht irgendwo im Programmheft. Auch hier wieder gute Unterhaltung. Schöne Bilder, gelungene Darstellungen. Aber der Anspruch einer Botschaft, der wortreich vorangetragen wurde, verliert sich in harmloser Ästhetik. Technisch brilliant: Florian Hölscher (Klavier) und Oboist Jean-Jaques Goumez.

Veröffentlicht im Neuen Deutschland und in der Allgemeinen Zeitung Mainz (vom Autor gekürzt)