Mittwoch, 29. November 2006

Verdis Simon Boccanegra an der Deutschen Oper Berlin

Mit „Simon Boccanegra“ kann man es ja machen. Das ist schließlich eine derjenigen Verdi-Opern, die man selten auf der Bühne sieht und auf die sich wohl kaum jemand aus Beständen der privaten Gesamtaufnahmen-Sammlung intensiv vorbereitet hat. Doch denkste – das Publikum in der Deutschen Oper ließ es Regisseur Lorenzo Fioroni nicht durchgehen, dass sein Konzept hinten und vorne nicht stimmte und verhalf seinem Unmut bereits nach dem zweiten Akt lautstark zur Geltung. Dem Zuschauer verschloss sich an diesem Abend in der Tat gänzlich der Zugang zu Fioronis Zugang, auch das Programmheft-Studium bot wenig Aufschluss.

Doch zunächst einmal zum Stück selbst. Verdis 1857 uraufgeführte und 1881 in überarbeiteter Fassung noch einmal herausgebrachte Oper beruht auf dem gleichnamigen Schauspiel von García Gutiérrez aus dem Jahr 1339, in dem das Schicksal des ersten vom Volk gewählten Dogen von Genua behandelt wird. Die Urfassung traf seinerzeit nicht auf Begeisterung. Zu düster, zu spröde, so die Kritik. Daher die Überarbeitung, die schließlich den gewünschten Erfolg brachte. Ins Repertoire schaffte sie es jedoch nicht.

Der Korsar Simon Boccanegra wird zum Dogen gewählt, obwohl er sich grundsätzlich wenig für dieses Amt interessiert. Aber er hofft, damit endlich den gesellschaftlichen Rang zu erringen, der es ihm ermöglicht, die junge Adlige Maria zu heiraten. Die jedoch ist in der Gefangenschaft ihres standesbewussten Vaters Jacopo Fiesco gestorben. Dieser bietet dem verhinderten Schwiegersohn Versöhnung an, wenn der ihm die Tochter aus dieser Liaison überlässt, die wiederum verschwunden ist. Also wird nichts aus dem Tausch, die vererbte Fehde bleibt bestehen.

Erst ein Vierteljahrhundert später trifft Boccanegra auf seine tot geglaubte Tochter Amelia. Die hat sich mittlerweile in den Adligen Gabriele Adorno verliebt, der zu den erbitterten Gegnern des Dogen gehört. Boccanegra hat verständlicherweise Einwände gegen eine Hochzeit, verhindert aber, dass sein Weggefährte Paolo Albiani sie zur Vermählung mit ihm zwingt. Der sinnt auf Rache und lässt Amelia entführen, die kann sich befreien, Adorno hat in der Zwischenzeit den Entführer getötet und will nun gleiches mit Boccanegra tun, den er für seinen Rivalen um Amelias Gunst und deren Entführer hält. Amelia verhindert das, Paolo vergiftet den Dogen. Adorno erfährt von dem wahren Verhältnis zwischen Simon und Amelia, bittet den sterbenden Dogen um Verzeihung und wird dessen Nachfolger. Auch Fiesco muss nun sein Versprechen halten und versöhnt sich mit Boccanegra.

Im Zentrum stehen die Versuche Boccanegras, die Gräben zwischen Volk und Adel zu begradigen, wodurch er ständig zwischen dir Fronten gerät. Tragischerweise gelingt ihm die Versöhnung erst mit seinem Tod und der Vermählung zweier Vertreter unterschiedlicher Stände. In Fioronis Inszenierung spielt dieser Konflikt kaum eine Rolle, er wird, wie alles an diesem Abend, buchstäblich überrollt von der fixen Idee, das Ganze irgendwie mit Zügen zu realisieren. Alles spielt auf Bahnhöfen oder in einem Salonwagen, der seltsamerweise gleichzeitig Boccanegras Schlafzimmer wie auch der Beratungssaal des Senats ist. Solche eklektisch aneinander gereihten Inkonsequenzen gibt es hier zuhauf, um das mit einem gewissen realistischen Charme versehenen Bühnenbild von Cordelia Matthes ist das ziemlich schade. Wann bekommt man schon mal eine komplette Lokomotive auf der Bühne zu sehen?

Der Regisseur versucht in keinem Moment, die Beziehungsgeflechte in seine Szenen zu übersetzen, so dass hier ein historischer Stoff in einer mal mehr, mal weniger gegenwärtigen Kulisse stattfindet. Es gibt Cheerleader und jemand hat Sex auf der Lok. Gefangene landen im Kofferwagen, der Adel schießt mit altertümlichen Jagdflinten und telefoniert mit dem Handy. Zurück bleibt Ratlosigkeit. Bestimmt wäre das irgendwie realisierbar gewesen, doch etwas mehr Mühe hätte sich Fioroni geben müssen, diese Art der Arbeit ist schlichtweg schlampig.

Musikalisch gab es nichts zu bemängeln, alle Beteiligten mühten sich redlich durch die Produktion. Roberto Scandiuzzi stattete den gealterten Jacobo Fiesco mit profundem Bass und souveränem Spiel aus, Roberto Frontali war in der Titelrolle wandlungsfähig und ausgesprochen zupackend zu erleben. Besonders gefiel Tamar Iveri mit ihrem gleichermaßen zarten und innigen Sopran, Franco Farina verlieh dem Gabriele Adorno mit kraftvollem Tenor gezielt ungestümes Leben. Unter der Leitung von Yves Abel fuhr das Orchester der Deutschen Oper eine eindrucksvolle Kulisse zu dem emotionsgeladenen Ränkespiel auf, dem Chor hätte etwas mehr Aufmerksamkeit gut gestanden.

Veröffentlicht in Neues Deutschland

Dienstag, 21. November 2006

Kolloquium zum "Realistischen Musiktheater" in Berlin

Die Einheit von Oper und Wirklichkeit sind für den einen ein „rotes Tuch“, für andere eine absolute Notwendigkeit aktueller Inszenierungen. Mit dem Thema „Realistisches Musiktheater“ befasst sich an diesem Wochenende ein hochkarätig besetztes öffentliches Kolloquium in der Komischen Oper. Kooperationspartner ist die Freie Universität.

Im Mittelpunkt steht die Arbeit des Gründers und langjährigen Leiters der Komischen Oper, Walter Felsenstein. Mit seiner Ablehnung einer „kulinarischen Aufführungstradition“ und dem Versuch, die Oper von ihrer Künstlichkeit zu befreien, wird ihm eine wegweisende ästhetische Rolle in der Inszenierungs-Tradition der vergangenen Jahrzehnte zugewiesen. Mit seiner Arbeit und der von Regisseuren wie Götz Friedrich, Harry Kupfer, Ruth Berghaus, Calixto Bieito und Peter Konwitschny befassen sich die Vorträge renommierter Musik- und Theaterwissenschaftler sowie fachlich versierter Autoren und Theaterschaffender.

Anekdotisches wird von Joachim Herz zu erfahren sein. Der ehemalige Intendant der Komischen Oper war Anfang der 50er Jahre Assistent von Felsenstein und hält den Einführungsvortrag am Samstag. Wolfgang Behrens, Redakteur der Fachzeitschrift „Theater der Zeit“ referiert über die „Gefährdung der Wirklichkeit“ im Musiktheater, der Berliner Fachautor Friedrich Dieckmann blickt auf die Bayreuther Ring-Inszenierung von Patrice Chéreau (1976/77) zurück. Mit Wieland Wagner und seinen Inszenierungen befasst sich Klaus Schultz, Intendant und Chefdramaturg des Staatstheaters am Gärtnerplatz in München. Sein Thema: „Insezenierung als Interpretation zwischen Hemmnis und Antrieb.

Die Veranstaltung findet am 25. und 26. November jeweils von 10 bis 18 Uhr in der Probebühne 2 der Komischen Oper statt. Der Eintritt ist frei. Anmeldung erbeten unter 030-47 99 74 00. Informationen im Internet: www.sfb-performativ.de

Veröffentlicht in Neues Deutschland

Montag, 6. November 2006

Acht Bratschen können auch Musik

Am besten manövriert man sich aus der Schusslinie des Spotts, wenn man selbst ganz offensiv Witze über die eigene Spezies reißt. Genau so finden sich Malte Schaefer und seine sieben Leidensgenossen im Philharmonischen Staatsorchester Mainz mit ihrem Schicksal ab. Denn sie sind Bratscher. Opfer zahlreicher Bratscher-Witze, die alle Mantafahrer- und Ostfriesen-Kalauer überdauert haben, auf dass diese Berufsgruppe für immer gedemütigt sei. Dass es ihr dabei weder an Selbstbewusstsein noch an hervorragendem Nachwuchs fehlt, bewies die Bratschengruppe nun beim ersten Kammerkonzert dieser Spielzeit im Kleinen Haus.

Für dieses Konzerte hatten sie sich über Originalliteratur und originelle Bearbeitungen hergemacht. Denn tatsächlich kennt die Musikgeschichte das eine oder andere Werk für Bratschenensemble. Und was fehlt, wird einfach komponiert. So stand am Ende des Programms eine Uraufführung aus der Feder des Mainzer Chordirektors Sebastian Hernandz-Laverny.

Eröffnet wurde das Konzert, wie es sich im Theater gehört, mit einer Ouvertüre. Der, zu Gioacchino Rossinis „Barbier von Sevilla“. Die Bearbeitung von Oliver Tepe legte den Schluss nahe, dass man dafür nicht mehr als acht Bratschen braucht und der Zuhörer wunderte sich bald, wozu Rossini sich eigentlich den Aufwand mit dem großen Orchester gemacht hatte. Allerdings ließ sich hier anfangs erkennen, dass so mancher Viola-Vertreter noch dabei war, den Komfort der Tutti-Anonymität abzuschütteln. Sowohl in Intonation als auch beim Zusammenspiel musste dem Ensemble eine gewissen Orientierungsphase auf der Bühne zugestanden werden.

Doch gerade in den kleinen Besetzungen war Erstaunliches zu hören. So gelang eine Cassatio für fünf Violen des Haydn- und Mozart-Schülers Anton Wranitzky spritzig und akkurat, der Komponist nutzte dabei die weiche Klangfarbe des Instruments geschickt aus, die Interpreten nahmen die Vorlage dankbar für effektvolle Wendungen auf. Luftig-verspielt kam das vierstimmige „Nachtstück“ von Max Ritter von Weinzierl daher.

Nach einem unterhaltsamen Block, der unter anderem ein flottes Jazz-Tune von Ian Gammie in Anlehnung an den Standard „Lullaby of Birdland“ und Bernsteins „Somewhere“ aus der „Westside Story“ enthielt, bereitete sich das Oktett auf das Finale vor. Eine fantastische rhythmische Zugkraft entwickelten die Musiker bereits in einer Bratschen-Fassung von Astor Piazzollas „Libertango“. Schließlich stand die Uraufführung der „Introduktion, Cantabile& phantastische Fuge“ von Hernandez-Laverny an. Das Stück entpuppte sich als ein geschicktes Spiel mit der Vielstimmigkeit gleicher Instrumente, das mal in breiten elegischen Ausführungen, mal durch sanft drängenden Jazzmomenten seinen Ausdruck fand. Vor allem die komplizierte achtstimmige Fuge am Schluss forderte die Disziplin der Spieler deutlich heraus. Auf jeden Fall ist an diesem Abend ein ungewöhnliches Experiment gelungen und wartet nun auf die Fortsetzung.

Mädchenjazz mit Viktoria Tolstoy

Eies Tages waren sie da. Sie hatten sich die Gitarre umgeschnallt oder an den Flügel gesetzt und arbeiteten sich mit verträumten Akkorden und ebensolchem Blick durch die Clubs und Konzerthallen. Manchmal hatten sie auch ausschließlich ihre Stimme mitgebracht, dann ging das auch. Junge, mädchenhafte Frauen, die sich vorgenommen haben, ihren „eigenen Weg“ in der Musik zu gehen. Nicht bei einer Casting-Show Mitglied einer „Band“ zu werden, deren Halbwertszeit kaum mit den Veranstaltungsplänen seriöser Veranstalter überein zu bringen sind. Wer dann nicht den Chanson oder die Kleinkunst im Allgemeinen für sich entdeckt hat, dem kam noch die große Welt der jazzverwandten Musik entgegen. Denn hier gab es bis vor kurzem eine Nische, die nun besetzt ist und laufend Zuwachs erhält.

Viktoria Tolstoy gehört zu diesen Nischen-Spezialistinnen. Die 32-jährige Schwedin, die, bewusst oder unbewusst, nicht zuletzt wegen ihres wallenden blonden Haupthaares auf den ersten Blick schon für die lange verschollen geglaubte dritte Abba-Sängerin gehalten werden könnte, stellte nun im Frankfurter Hof ihr zweites Album vor. Nach „My swedish heart“ von 2005 hat sie binnen Jahresfrist nachgelegt. „Pictures of me“ heißt es und ist ein eingängiges Stück Scheibe geworden, dem man auf längeren Bahnfahrten beruhigt lauschen kann, sie macht schlichtweg Spaß, ohne anzuecken. Mit Paul Simons „Have a good time“, gibt sie das Motto treffend vor.

Was aus der Konserve so einen schönen Hintergrund beschert, wirkt auf der Bühne etwas beschaulich. Frau Tolstoy ist auf freundliche Melodien abonniert, die sie mit sauberer Stimme, fernab verruchter Jazzattitüde vorträgt. Glockenhell intoniert sie ohne jeden Fehltritt, ihre Präsenz wird von betonter Akkuratesse geprägt. „Te Amo Corazón“, das sie von Prince ausgeliehen hat, wickelt sie sanft abgehangen ab, als behutsam-kitschige Ballade legt sie die ihr von Lars Danielssohn geschriebenen „Women of Santiago“ an.

Alles ist bis ins kleinste Detail auf den sicheren Effekt abgestimmt, der ihr auch immer wieder glückt. Schwachstellen hat ihre Stimme keine, aber gerade das lässt sie ein wenig beliebig wirken und dann doch an die Casting-Show denken. Denn dieses in ihrem Milieu so häufig bemühte „Eigene“, lässt sich nicht finden. Leider kann sie keine eigenen Geschichten erzählen, ein wesentlicher Bestandteil, der ansonsten den Reiz eines jeden nachhaltig wirkenden Künstlers ausmacht. Das Publikum im Frankfurter Hof hatte dennoch eine gute Zeit und niemand will ihm das verübeln.

Minimal-Jazz in epischer Breite. Das Tord Gustavson Trio in Mainz

Die drei Herren lassen sich Zeit. Wenn eine Sinfonie oder Sonate eine Dauer von 20 Minuten und mehr aufweist, dann wundert sich wohl niemand darüber. Im Gegenteil: das muss so sein. Im Jazz ist das anders. Wer epische Längen anpeilt, sollte auf jeden Fall auch das musikalische Material dafür zu bieten haben. Beim Tord Gustavson Trio ist das so eine Sache. Minimalistische Klavierakkorde vom Namensgeber, verträumte Bass-Tupfer von Harald Johnsen und sinnierende Besenschläge aus Jarle Vespestads Händen ergeben zusammen eine elegische Melancholie, die zuweilen deprimierend wirkt – zumal fast immer in Moll gehalten.

Die norwegischen Musiker haben die Langsamkeit gepachtet und weichen auch im Frankfurter Hof nur in äußerst seltenen Ausnahmen von ihrer selbst gewählten Regel ab. Ewig ziehen sich Melodie-Einfälle, die dann auch noch in ihre Bestandteile aufgelöst, nahezu atomisiert auf unzählige Takte ausgebreitet werden. Das wirkt detailreich, ist aber oft nur die zigfache Wiederholung ein und derselben Idee, manchmal mit dezenten Variationen, ganz selten einmal in neuer Verarbeitung oder Durchführung.

Die Beschaulichkeit ihres Spiels enthebt die drei Musiker der Notwendigkeit, sich mit besonderer Virtuosität zu brüsten. Darüber zumindest scheinen sie absolut erhaben. Derart verinnerlicht und oft seltsam abwesend, wie vor allem Tord Gustavson wirkt, begibt sich das Trio vornehmlich in eine ganz eigene Welt. Sie spielen, so hat es oft den Anschein, vor allem für sich selbst, sie probieren gerne in aller Behutsamkeit neue Gabelungen nach der einen oder anderen Improvisation aus, scheinen sich während des Spiels ausreichend Gedanken über die Akkordfolgen machen zu können.

Was dabei musikalisch heraus kommt, ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Es braucht schon viel Einfühlungsvermögen und Bereitschaft zur Aufgabe gewohnter Tempovorstellungen und Erwartungen, um sich ein komplettes Konzert lang den Vorgaben des Trios anzupassen. Hier sind Konzentrationsfähigkeit und Durchhaltewille gleichermaßen gefragt. Zwar verpasst man nichts, wenn man mal kurz einnickt oder ein Getränk holt, doch wer einmal den Versuch unternommen hat, sich für einen Moment dieser Musik zu entziehen, um dann wieder dazu zu stoßen, hat feststellen müssen, dass er dabei in atmosphärische Schwierigkeiten gerät.

Sei’s drum. Zeitgenossen, die sich einmal so überhaupt nicht um auch im Jazz mittlerweile eingebürgerte Taktungen zwischen drei und zehn Minuten scheren möchte, werden hier gut bedient. Das Tord Gustavson Trio gibt sich nicht mit Häppchenkultur zufrieden, sondern will jedes Stück Musik bis zum letzten Tropfen auskosten. Und sei noch so wenig darin an Neuem und Aufregendem enthalten. Muss ja auch nicht immer.

Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz

Sonntag, 5. November 2006

Mozarts "Zauberflöte" in Mainz

Jürgen Bosse erzählt am Mainzer Staatstheater Mozarts „Zauberflöte“ als intergalaktische Abenteuerreise und schreckt vor Klamauk nicht zurück.

Plötzlich steht Prinz Tamino in einer fremden Welt. Er weiß nur noch, dass er mit einem Ungeheuer gekämpft hat und gerettet wurde. Die neue, etwas bizarre Welt bringt ihm die Bekanntschaft mit dem tölpelhaften, aber gutmütigen Papageno, der fortan sein Begleiter ist. So weit ist die Angelegenheit klar, die Inszenierung von Jürgen Bosse und die Bühne von Susanne Maier-Staufen lässt Erinnerungen an „Peterchens Mondfahrt“ und den „Kleinen Prinzen“ wach werden. Zumal sich die Protagonisten immer auf einer konvexen Oberfläche tummeln und ab und an ein Sternenvorhang fällt. Eine niedliche Zeichentrickatmosphäre macht sich spätestens dann breit, wenn die drei Knaben in einer Raumkapsel über die Bühne fliegen.

Tatsächlich müssen unsere Helden auf ihrer Abenteuerreise so eine Art Irrfahrt durchs Universum antreten, um dabei ihre Prüfungen zu bestehen. Die Idee ist irgendwie verlockend, meist gelingt die Umsetzung auch ohne grobe Schnitzer. Wäre dem Schauspielregisseur Bosse doch bloß nicht zwischendrin langweilig geworden. Irgendwie schien es ihm uninteressant, einfach nur Oper zu erzählen. So lässt er seinen Papageno im zweiten Akt plötzlich die Geschichte unterbrechen und eine alberne Groteske beginnen. Unvermittelt steht er im Publikum, faselt etwas von Württemberger Wein und der „Schwäb’sche Eisebahn“, kalauert bubenhaft herum und überschreitet im Zwiegespräch mit dem Publikum die Grenze zum Klamauk merklich. Spätestens als er zusammenhanglos mit Menschenknochen auf einem Sarg trommelt und mit einen Totenschädel jongliert, verkommt die Szene zur biederen Kopie einer wohlfeilen Provokation, die nur noch lächerlich wirkt.

Musikalisch kann sich das Staatstheater derzeit solche Eskapaden nicht leisten, wie ein Blick auf das Ensemble schnell erkennen lässt. Da ist ein durchaus solider und beständiger Alexander Spemann als Tamino zu erleben, der aber neben aller spielerischen Erfahrung einen mittlerweile bedenklich angeschlagenen Tenor führt. Hans-Otto Weiß fehlt für den Sarastro schlichtweg die Tiefe. Eigens für die „Königin der Nacht“ nach Mainz engagiert, verwirrt Ana Durlovski mit schwerem und kehligem mittleren Register, kann dafür mit unerwartet flüssigen und leichtfüßigen Koloraturen überraschen. Eine angenehme Ausnahme beschert Tatjana Charalgina in der Rolle der Pamina mit gelöstem, wandlungsfähigem Sopran und beweglichem Spiel. Auch Patrick Pobeschin ist als Papageno eine hervorragende Besetzung, der Neuzugang wertet das Ensemble mit seiner unverbrauchten, leistungsfähigen Stimme spürbar auf.

In den kleineren Rollen fallen Mareen Knoth als kokette Papagena sanglich pointiert und Martin Erhard als klar formulierender, für den Monostatos vielleicht etwas zu hell gefärbter Tenor auf. Auch Mark Bitter, Janni Kücher und Tilman König vom Mainzer Domchor bewältigen ihre anspruchsvollen Partien der Drei Knaben mit Bravour. Unter der Leitung von Thomas Dorsch ist das Philharmonische Staatsorchester an diesem Abend nicht mehr und nicht weniger als ein zuverlässiges Begleitorchester, dem Chor hätte mehr Aufmerksamkeit sicherlich gut gestanden.

Veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse

Mittwoch, 1. November 2006

Rimski-Korsakows Oper "Die Zarenbraut" in Frankfurt

Ja, Nikolai Rimski-Korsakow hat Opern geschrieben, auch wenn man das mit Blick auf deutsche Spielpläne allmählich vergessen könnte. Die Frankfurter Oper hat nun seine „Zarenbraut“ auf die Bühne gebracht, ein wuchtiges Stück, über das sich viele Fachlexika nach wie vor ausschweigen. Frankfurt schließt damit eine Lücke – denn hier wurde noch nie ein Stück des russischen Komponisten gespielt, wie Intendant Bernd Loebe vor Beginn der Spielzeit geäußert hatte. Darum durfte das Publikum gleich mehrfach gespannt sein. Die Inszenierung lag in den Händen des Norwegers Stein Winge, der in der vergangenen Spielzeit hier mit Smetanas „Verkaufter Braut“ debütierte. Jetzt hatte er ein üppig schwelgendes Werk vor sich liegen, das mit großen Gesten und viel Emotion daherkommt.

Zwei Frauen befinden sich im Fadenkreuz patriarchalischer Machtausübung. Marfa entstammt einer obrigkeitshörigen Familie und ist dem ebenso regimetreuen Adligen Lykow versprochen, den sie schon aus Kinderzeiten kennt. Beide fügen sich jedoch dem Willen des Zaren, der Marfa zu seiner Braut erwählt hat. Ljubascha ist im Gegensatz dazu eine Kämpfernatur. Sie wurde von Grjasnoi, einem Mitglied der berüchtigten zaristischen Geheimpolizei auf einem Raubzug erbeutet, der nun aber ein Auge auf Marfa geworfen hat. Die Zurückgestoßene, die sich mittlerweile in ihren Eroberer verliebt hat, will ihn nicht aufgeben, sondern sinnt auf Rache. Sie vergiftet schließlich die Rivalin, der sie ein Liebespulver, das Grjasnoi für die Angebetete vorbereitet hat, mit einer tödlichen Substanz vertauscht.

Zu Beginn der Inszenierung kann der Zuschauer noch eine zeitgemäße Interpretation mutmaßen. Die Feier Grjasnois findet in einer Art Nachtclub statt, die gefürchteten „Opritschniki“ wirken wie eine mafiöse Schlägerbande. Schon im ersten Akt konfrontiert Stein Winge sein Publikum mit einer minutenlangen Vergewaltigungsszene. Während die zaristische Privatarmee ihr rituelles Lied singt, vergehen sich ihre Mitglieder der Reihe nach an einem wahllos von der Straße geholten Opfer, das anschließend per Kopfsschuss „entsorgt“ wird. Das bleibt aber weitestgehend die einzige Situation, in der sich der Regisseur Eigenmächtigkeiten erlaubt. Später gerät der Verlauf gänzlich konventionell, von der Bojaren-Datscha bis zum Zarenpalast. Ein merkwürdiger Bruch, der sich auch während der Premiere nicht von selbst erklärt. So scheint es, als habe Stein Winge mitten in der Arbeit einfach seine Meinung geändert.

Musikalisch erlebte das Premierenpublikum ein wahres Sängerfest. Als Marfa brillierte Ensemble-Mitglied Britta Stallmeister stimmlich absolut überzeugend und szenisch wandlungsfähig bis zum sich hinziehenden Zerfall. Ihr Abschiedslied in den letzten Zügen der Vergiftungsfolgen gerät ergreifend und innig. Kraftvoll gibt Johannes Martin Kränzle den Opritschnik Grjasnoi, den er mit kernigem Volumen ausstattet. In der Rolle der Ljubascha war die russische Mezzosopranistin Elena Manistina erstmals in Frankfurt zu hören. Vom A capella vorgetragenen Todessehnsucht-Lied im ersten Akt an beeindruckte sie durch sangliche Tiefe und eine enorme Bühnenpräsenz. Michail Jurwoski, kürzlich als Chefdirigent an das WDR-Rundfunkorchester verpflichtet, spornte das Museumsorchester zu wuchtigen Klangkulissen an, die aber auch immer wieder differenzierter Ensemblebegleitung wich. Ein präzise und spielfreudig agierender Chor komplettierte eine musikalisch kompromisslos gelungene Produktion.


Veröffentlicht in der Wetzlarer Neuen Zeitung