Sonntag, 24. Dezember 2006

Hans Pfitzners "Christ-Elflein" am Staatstheater Darmstadt

Manche Geschöpfe haben schon ein schönes Leben. Die Elfen zum Beispiel. Die können unbekümmert und größtenteils ohne belastendes Wissen um die tiefen Geheimnisse der Menschheit lustig durch die Gegend schweben und werde weiter von keinen Sorgen geplagt. Eines von ihnen aber wollte ausgerechnet kurz vor Weihnachten ausbrechen und wunderte sich eines Tages, warum es von den Menschen in der Regel nicht gesehen wird. Hans Pfitzner hat 1906 eine zweiaktige Spieloper auf der Grundlage einer Dichtung von Ilse von Stach um dieses Wesen herum geschrieben. „Das Christ-Elflein“ hatte nun am Staatstheater in Darmstadt Premiere, die halbszenische Fassung wurde von Bettina Geyer behutsam eingerichtet.

Das rührselige Stück wird durch den schlichten Rahmen noch einmal in seiner Wirkung unterstrichen. Denn eine puppenhafte Inszenierung mit viel Schnee und Winterwunderland-Stimmung hätte das Werk endgültig in die Welt des Kitsch übergleiten lassen. Auf diese Weise konnte die Musik im Vordergrund stehen, eine lautmalerisch üppig gezeichnete Tonschöpfung, die atmosphärische Motiv-Verknüpfungen in Reinkultur bietet.

Das Elflein wird von Sonja Gerlach hinreißend keck und naiv verkörpert, ihr angenehm klar formulierender Sopran kommt hier bestens zur Geltung. Ihr wird von Christkind Susanne Serfling (Sopran), die schlank und hell timbriert eine geschickt platzierte Besetzung darstellt, das Geheimnis der Weihnacht näher gebracht. Die wurde ihm vorher vom mürrischen Tannengreis Thomas Mehnert kraftvoll und ruppig vorenthalten. Karin Klein aus dem Schauspiel-Ensemble des Hauses hat es sich während dessen in einem großen Ohrensessel bequem gemacht, um die Geschichte weihnachtlich deklamierend zusammen zu halten.

Rührende Momente beschert der Jugendchor, der mal in Gestalt von Dorfkindern, ein andermal als Engelschar die Bühne betritt. Die jungen Sängerinnen und Sänger sind konzentriert bei der Sache und klanglich sehr sicher. Das ansonsten solide aufspielende Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Stefan Blunier gibt sich in der Begleitung der Chöre leider etwas schwerfällig, hier hätten die Profis ihren jugendlichen Kollegen ein wenig mehr Entgegenkommen zeigen können.

Veröffentlicht unter anderem in der Frankfurter Neuen Presse

Montag, 18. Dezember 2006

Bratschen-Ensemble "Piu alto" im Frankfurter Holzhausenschlösschen

Und es gibt sie doch. Anspruchsvolle Literatur für vier gleiche Instrumente, gar für vier Bratschen. Oft geraten Konzerte, in denen diese gern unterschätzte Gattung in den Mittelpunkt gestellt wird, zum freiwilligen oder ungewollten Kuriosum. Das Ensemble „Piu alto“, das sich erst vor zwei Jahren aus Studierenden der Frankfurter Musikhochschule formiert hat, bewies nun im Holzhausenschlösschen, dass vier Bratschen durchaus ein ernstzunehmendes Kammerkonzert bestreiten können.

Schwelgerisch badeten die Musiker im romantischen „Nachtstück“ von Max Ritter von Weinzierl. Bewusst spielte das Quartett mit dem warmen Klang seiner Instrumente, mal agierten die Interpreten frei und gelöst, mal sehr intensiv und sanglich, arbeiteten diese Kontraste immer wieder gezielt heraus. Ebenfalls auf Gegensätze angelegt war die Gegenüberstellung von drei Ricercaren von G. Pierlugia da Paelstrina aus dem 16. Jahrhundert und den „Fünf polyphonen Miniaturen“ des 1918 geborenen Komponisten Jürg Bauer. Fließend gingen die einzelnen Sätze ineinander über, manchmal wurde der stilistische Bruch erst nach einigen Tönen wirklich bewusst, derart geschickt arbeitet der Zeitgenosse mit 400 Jahre alten Imitations-Techniken. Beherzt rissen die Musiker harte Pizzikati und schreckten vor dissonant übereinander gelagerten Glissandi nicht zurück.

Ungewohnte Virtuosität entlockte das Ensemble seinen Bratschen in den Variationen über „Ah! vous dirai-je, Maman“ von Charles Dancla. Hier wurden ihnen rasante Läufe abverlangt, wie sie in den gängigen Partien so ausgeprägt wohl kaum zu finden sind. Trotz aufkeimender Intonations-Schwierigkeiten bewältigte das Quartett auch diese selbst gestellte Aufgabe letztlich mit Bravour.

Veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse

Montag, 11. Dezember 2006

Antonio Vivaldis "Motezuma" in Schwetzingen

Lange hat es gedauert, bis aus der musikwissenschaftlichen Sensation musikdramatische Realität werden durfte. 2002 wurde Vivaldis Oper „Motezuma“ im gerade aus Kiew wieder zurück gebrachten Archiv der Berliner Singakademie entdeckt, es entspannte sich rasch ein hässlicher Streit. Nicht etwa um Fragen der Authentizität oder Rekonstruktion, sondern um die Aufführungsrechte, die von der Singakademie seinerzeit reklamiert und zunächst gerichtlich durchgesetzt worden ist. Erst im Sommer vergangenen Jahres wurde das Werk dann von Gerichts wegen frei gegeben und beim Düsseldorfer Altstadtherbst szenisch zum ersten Mal wieder aufgeführt.

Ein Drittel der Musik jedoch ist nach wie vor verschollen und so bediente sich das Heidelberger Stadttheater bei seiner Produktion im Schwetzinger Schloss nun eines Kunstgriffs, denn der Meister wohl kaum übel genommen hätte. Der in Mainz an Klavier und Hammerflügel ausgebildete 25-jährige Komponist Thomas Leiniger, der seine Studien an der renommierten Schola Cantorium Basiliensis vervollständigte, hat die fehlenden Teile nun dazugeschrieben. Dabei hat er Ausschnitte vorhandener Vivaldi-Werke entliehen oder schlichtweg bestehende Strukturen und Phrasen miteinander verknüpft und ausgebaut. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, Vivaldi selbst hat, ebenso wie die meisten seiner Zeitgenossen, immer wieder eigene Stücke neu gefasst oder miteinander kombiniert. Eine Notwendigkeit der Produktionsdichte.

Die Handlung erschien schon seinerzeit märchenhaft und als historischer Unsinn. Kaiser Motezuma unterliegt nach längerem Hin und Her dem spanischen Eroberer Fernando, dessen Bruder Ramiro mit Motezumas Tochter Teutile eine heimliche Liaison eingegangen ist. Am Ende darf Motezuma als Vasall des spanischen Königs Mexiko weiter regieren, unter der Bedingung dass das junge Paar heiraten kann.

Für diese Produktion sind die Musiker des Stadtorchesters eigens zu Barockspezialisten geworden und meistern ihre Aufgabe erstaunlich zupackend und lebendig unter der Leitung von Michael Form, der im übrigen knapp zehn Jahre lang an der Mainzer Universität unterrichtet hat. Mit der Regie wurden der mexikanische Regisseur Martín Acosta, für Bühne und Kostüme zeichnet sein Landsmann, der Papier-Experte Humberto Spínola verantwortlich.

Die Inszenierung versucht, die Zeitachse der Handlung ein wenig zu brechen, indem sie die Akteure als eine Art wiederbelebte Figuren aus einem Museum ausbrechen lässt. Sie agieren in knallbunten Kostümen inmitten drehbarer, seitlich aufgebauter Stellwände, die mal golden glänzen, mal mit Ornamenten und Symbolen verziert sind und begegnen darin immer mal wieder Figuren der Gegenwart, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Während die szenische Umsetzung bei aller Exotik manchmal etwas ungelenk wirkt, behauptet sich das Ensemble sängerisch bemerkenswert selbstbewusst und ansprechend. Sebastian Geyer fehlt zwar in der Titelrolle etwas die barocke Färbung, er ist eher machtbesessener neuzeitlicher Held, doch zeigt er sich der Aufgab über die lange Strecke hinweg gewachsen. Jana Kurucová verfügt über die Wandlungsfähigkeit, die ihr die Hosenrolle des Ramiro abverlangt, Michaela Maria Mayer besticht als Teutile mit brillantem Timbre. Etwas dunkler gefärbt und für die Rolle des mexikanischen Generals Asprano fast schon zu sinnlich, aber einfach schön anzuhören: Silke Schwarz.

Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz

Dienstag, 5. Dezember 2006

Felsenstein-Kolloquium in der Komischen Oper Berlin

Die Geschichte der Komischen Oper Berlin ist eng mit dem Namen Walter Felsenstein (1901-1975) verknüpft. Ihm verdankt sie ihre Gründung ebenso wie ihre erste Blüte. Felsenstein prägte eine eigene Schule der modernen Opernregie, viele seiner Inszenierungen wurden als modellhaft gesehen. Mit der Komischen Oper war es ihm gelungen, sich weitestgehend die Arbeitsbedingungen zu schaffen, die er für die Umsetzung seiner Vorstellungen benötigte. Die gleichberechtigte Kommunikation zwischen Text und Musik war ihm zwingend notwendiges Gebot. „Musiktheater ist, wenn eine musikalische Handlung mit singenden Menschen zur theatralischen Realität und vorbehaltlosen Glaubhaftigkeit wird“, so sagte er einmal. Damit orientierte er sich an den Vorstellungen des Theaterreformers Konstantin Stanislawski. Zu seinen unmittelbaren und indirekten Schülern und Nachfolgern zählen Joachim Herz, Götz Friedrich und Harry Kupfer.

Die Freie Universität (FU) Berlin und die Komischer Oper machten nun Person und Werk Felsensteins zum Ausgangspunkt eines zweitägigen Kolloquiums unter dem Titel „Realistisches Musiktheater – Geschichte, Erben, Gegenpositionen“ in Berlin. Ausgehend von ihm wurde bei dieser Veranstaltung lebhaft über Konsequenzen aus seiner Arbeit und deren Auswirkungen auf heutige Inszenierungen debattiert. Hierzu waren zahlreiche renommierte Theatermacher, Fachautoren und Wissenschaftler eingeladen worden, die aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln heraus ihren Beitrag zur Diskussion leisteten, die breit zwischen theoretischen Konstrukten und praktischer Anschauung gestreut war.

Insbesondere die Beiträge von Joachim Herz brachten neben anekdotischen Schilderungen auch zahlreiche inhaltliche Aspekte zutage, die Felsenstein auch unter heutiger Betrachtung sehr aktuell erschienen ließen. Herz kam 1953 als Assistent für Felsensteins „Zauberflöten“-Inszenierung an die Komische Oper, prägte zwischen 1959 und 1976 als Operndirektor die Musiktheater-Aufführungen in Leipzig, um von 1976 bis 1981 als Intendant an die Komische Oper zurück zu kehren. „45 Minuten Fossilienkunde“ nannte er launig seinen Eröffnungsvortrag, der dann doch so viel mehr werden sollte. Auch seine Diskussionsbeiträge waren die komplette Veranstaltung über stets bereichernd.

„Ich habe den Begriff des realistischen Musiktheaters von Felsenstein nie gehört“, stellte er gleich zu Beginn fest. Vielmehr sei es ihm stets um ein „nachvollziehbares Verhältnis zwischen Text, Musik und Aktion“ gegangen, betonte er. Ein Ziel sei es dabei gewesen, „die Wahrheit des menschlichen Vorgangs“ zu vermitteln. Dabei habe er auch nie vor Eingriffen in die Musik zurück geschreckt. „Auf der Bühne erwarten wir die Sinnsuche, weil uns das im Leben nicht mehr passiert“, gab er nicht zuletzt mit Blick auf aktuelle Inszenierungen zu bedenken. Dabei gehe es nicht immer darum, ein Werk möglichst zeitgemäß oder möglichst historisch zu deuten. Die Grundlage sieht Herz woanders: „Wir müssen versuchen, ein Werk, das es schon gibt, für Menschen von heute lebendig zu machen.“

Dabei ist die Wahl der Mittel genau zu erwägen. Auch Jens Roselt, Geschäftsführer des Sonderforschungsbereiches „Kulturen des Performativen“ an der FU gab in seinem Beitrag zu bedenken: „Eine realistische Deko allein macht noch kein realistisches Theater.“

Robert Sollich, Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ ging mit Peter Konwitschny auf ein Gegenmodell zu Felsensteins Erben ein. „Realistisches Musiktheater war das, was der Fall war“, brachte er seine persönlichen Erfahrungen aus den 80er Jahren, der Epoche seiner eigenen Opernsozialisation, zu Protokoll. „Peter Konwitschny ist von der Grundtendenz her anti-illusionistisch“ versuchte er eine grundsätzliche Einschätzung. Dabei nahm er etwa auf seine Wozzek-Inszenierung von 1998 an der Hamburgischen Staatsoper Bezug, in der er vollständig auf Kulissen und Kostüme verzichtete. „Bei ihm tritt der Darsteller wieder hinter seiner Rolle hervor“, konkretisierte er auch den Gegensatz zu Felsenstein. Schließlich könne Oper „produktive Reibungen zwischen Gesehenem und Gehörtem“ riskieren. Auch damit könne es gelingen, ein Publikum aus seiner Lethargie aufzuwecken. Sollich will die „Irrealität nicht als Manko, sondern als Chance“ verstanden wissen: „Die verkehrte Welt könnte die bessere sein“, gibt er damit zu bedenken.


Veröffentlicht in Oper und Tanz

Orff-Doppelabend mit "Oedipus der Tyrann" und "Antigonae"

Ist das nicht eigentlich eine Zumutung? Zwei Mal über zwei Stunden lang servierte John Dew seinem Publikum eine Gemengelage aus sängerischer Monotonie und ostinaten Rhythmen. Der Intendant des Darmstädter Staatstheaters hatte, auch um seinem Anspruch nach einem „eigenen Akzent“ gerecht zu werden, zwei Orff-Opern ausgegraben, die man auf den Spielplänen ansonsten vergeblich sucht. Zu Recht, könnte man nach diesen beiden Abenden einwenden, doch die spontane Reaktion wäre dann doch etwas oberflächlich.

Denn was Dew in Darmstadt getan hat, ist eine nicht zu unterschätzende Erinnerungsarbeit. Doch es ging dabei nur nebenbei darum, zwei in Vergessenheit geratene Werke wieder einmal aus der Versenkung zu heben. Orff hat in seinen beiden Kompositionen den seltenen Versuch unternommen, Text und Inhalt seiner Vorlagen nicht durch Musik zu kommentieren, sondern bestenfalls zu stützen. Heraus gekommen ist Sprechtheater mit Musik. Über weite Strecken verlangt er dabei seinen Interpreten sängerische Höchstleistungen an der Grenze des menschlich Leistbaren ab. Doch auch das ist Teil eines nachvollziehbaren Konzepts, geht es doch in den Sophokles-Tragödien „Oedipus der Tyrann“ und „Antigonae“ ganz ungeschönt um die tiefsten Abgründe menschlichen Zusammenlebens. Und die sind nun einmal nicht mit Wohlklang und Melodienseeligkeit realistisch zu übersetzen. Realismus nämlich steht im Vordergrund. Orff hat sich für eine unmittelbare Übertragung des bloßgelegten Konflikts entschieden und John Dew ist diesem Ansinnen in seinem kargen Inszenierungen gefolgt.

Der 1959 uraufgeführte „Oedipus“ findet in Darmstadt komplett vor der Kulisse einer gigantischen abgeschrägten Palastwand statt (Bühnenbild: Heinz Balthes). Bedrückend und belastend wirkt dieses Bild. Hier muss sich Oedipus nach und nach mit der erschütternden Wahrheit auseinandersetzen. Damit, dass er als Säugling ausgesetzt wurde, später unwissend seinen eigenen Vater getötet und dessen Stelle an der Spitze der Stadt Theben sowie an der Seite seiner leiblichen Mutter Jokaste eingenommen hat. Aus dieser Ehe sind in der Zwischenzeit vier Kinder hervor gegangen. Jokaste nimmt sich das Leben, Oedipus sticht sich die Augen aus und fordert die Stadtoberen auf, ihn des Landes zu verweisen. Norbert Schmittberg gelingt es in bestmöglicher Weise, diese kräftezehrende Partie auszufüllen. Die Partitur lässt ihm kaum einmal Zeit, um Atem zu schöpfen, immer muss er voll aussingen und das zudem noch in den höchsten Registern.

Die „Antigonae“-Vertonung, die 1949 in Salzburg uraufgeführt wurde, kommt den gängigen Erwartungen an ein Musiktheater schon etwas näher. Auch, weil hier das mit vier Klavieren und einem umfangreichen Schlagwerk besetzte Orchester lautmalerischer eingesetzt wird. Hier, wie am Abend zuvor gelingt Stefan Blunier im Graben eine ausgesprochen differenzierte Gestaltungsleistung, die auf ein tiefes Eindringen in die konzeptionellen Grundlagen des Werkes schließen lässt. Nach Oedipus’ Verbannung und dem Tod seiner beiden verfeindeten Söhne, ist Kreon, Jokastes Bruder, König von Theben geworden. Er verbietet die Bestattung des Oedipus-Sohnes Polyneikes, den er zum Staatsfeind erklärt hat. Dessen Schwester Antigonae hält sich nicht daran und wird zum Tod verurteilt. Kreons Sohn Hämon, der mit Antigonae verlobt ist, nimmt sich daraufhin das Leben, ebenso seine Mutter Eurydice. Mittlerweile ist aus dem glänzenden Palastwand eine raue, zerbröckelnde Mauer geworden, die am Ende in ein rotes Licht getaucht ist. Der Zerfall des Herrschergeschlechts wird überdeutlich. Andreas Daum verleiht der Zerrissenheit des Kreon in erschütterndem Maße Gestalt, Katrin Gerstenberger ist als charakterfeste Antigonae zu erleben. Bestechend präzise und effektvoll auch die Leistung des Herrenchores.

John Dew ist die Zumutung geglückt, auch weil er nicht versucht hat, mit seiner Inszenierung in das Geschehen einzugreifen.

Veröffentlicht unter anderem in der Frankfurter Neuen Presse und im Main-Echo

Mittwoch, 29. November 2006

Verdis Simon Boccanegra an der Deutschen Oper Berlin

Mit „Simon Boccanegra“ kann man es ja machen. Das ist schließlich eine derjenigen Verdi-Opern, die man selten auf der Bühne sieht und auf die sich wohl kaum jemand aus Beständen der privaten Gesamtaufnahmen-Sammlung intensiv vorbereitet hat. Doch denkste – das Publikum in der Deutschen Oper ließ es Regisseur Lorenzo Fioroni nicht durchgehen, dass sein Konzept hinten und vorne nicht stimmte und verhalf seinem Unmut bereits nach dem zweiten Akt lautstark zur Geltung. Dem Zuschauer verschloss sich an diesem Abend in der Tat gänzlich der Zugang zu Fioronis Zugang, auch das Programmheft-Studium bot wenig Aufschluss.

Doch zunächst einmal zum Stück selbst. Verdis 1857 uraufgeführte und 1881 in überarbeiteter Fassung noch einmal herausgebrachte Oper beruht auf dem gleichnamigen Schauspiel von García Gutiérrez aus dem Jahr 1339, in dem das Schicksal des ersten vom Volk gewählten Dogen von Genua behandelt wird. Die Urfassung traf seinerzeit nicht auf Begeisterung. Zu düster, zu spröde, so die Kritik. Daher die Überarbeitung, die schließlich den gewünschten Erfolg brachte. Ins Repertoire schaffte sie es jedoch nicht.

Der Korsar Simon Boccanegra wird zum Dogen gewählt, obwohl er sich grundsätzlich wenig für dieses Amt interessiert. Aber er hofft, damit endlich den gesellschaftlichen Rang zu erringen, der es ihm ermöglicht, die junge Adlige Maria zu heiraten. Die jedoch ist in der Gefangenschaft ihres standesbewussten Vaters Jacopo Fiesco gestorben. Dieser bietet dem verhinderten Schwiegersohn Versöhnung an, wenn der ihm die Tochter aus dieser Liaison überlässt, die wiederum verschwunden ist. Also wird nichts aus dem Tausch, die vererbte Fehde bleibt bestehen.

Erst ein Vierteljahrhundert später trifft Boccanegra auf seine tot geglaubte Tochter Amelia. Die hat sich mittlerweile in den Adligen Gabriele Adorno verliebt, der zu den erbitterten Gegnern des Dogen gehört. Boccanegra hat verständlicherweise Einwände gegen eine Hochzeit, verhindert aber, dass sein Weggefährte Paolo Albiani sie zur Vermählung mit ihm zwingt. Der sinnt auf Rache und lässt Amelia entführen, die kann sich befreien, Adorno hat in der Zwischenzeit den Entführer getötet und will nun gleiches mit Boccanegra tun, den er für seinen Rivalen um Amelias Gunst und deren Entführer hält. Amelia verhindert das, Paolo vergiftet den Dogen. Adorno erfährt von dem wahren Verhältnis zwischen Simon und Amelia, bittet den sterbenden Dogen um Verzeihung und wird dessen Nachfolger. Auch Fiesco muss nun sein Versprechen halten und versöhnt sich mit Boccanegra.

Im Zentrum stehen die Versuche Boccanegras, die Gräben zwischen Volk und Adel zu begradigen, wodurch er ständig zwischen dir Fronten gerät. Tragischerweise gelingt ihm die Versöhnung erst mit seinem Tod und der Vermählung zweier Vertreter unterschiedlicher Stände. In Fioronis Inszenierung spielt dieser Konflikt kaum eine Rolle, er wird, wie alles an diesem Abend, buchstäblich überrollt von der fixen Idee, das Ganze irgendwie mit Zügen zu realisieren. Alles spielt auf Bahnhöfen oder in einem Salonwagen, der seltsamerweise gleichzeitig Boccanegras Schlafzimmer wie auch der Beratungssaal des Senats ist. Solche eklektisch aneinander gereihten Inkonsequenzen gibt es hier zuhauf, um das mit einem gewissen realistischen Charme versehenen Bühnenbild von Cordelia Matthes ist das ziemlich schade. Wann bekommt man schon mal eine komplette Lokomotive auf der Bühne zu sehen?

Der Regisseur versucht in keinem Moment, die Beziehungsgeflechte in seine Szenen zu übersetzen, so dass hier ein historischer Stoff in einer mal mehr, mal weniger gegenwärtigen Kulisse stattfindet. Es gibt Cheerleader und jemand hat Sex auf der Lok. Gefangene landen im Kofferwagen, der Adel schießt mit altertümlichen Jagdflinten und telefoniert mit dem Handy. Zurück bleibt Ratlosigkeit. Bestimmt wäre das irgendwie realisierbar gewesen, doch etwas mehr Mühe hätte sich Fioroni geben müssen, diese Art der Arbeit ist schlichtweg schlampig.

Musikalisch gab es nichts zu bemängeln, alle Beteiligten mühten sich redlich durch die Produktion. Roberto Scandiuzzi stattete den gealterten Jacobo Fiesco mit profundem Bass und souveränem Spiel aus, Roberto Frontali war in der Titelrolle wandlungsfähig und ausgesprochen zupackend zu erleben. Besonders gefiel Tamar Iveri mit ihrem gleichermaßen zarten und innigen Sopran, Franco Farina verlieh dem Gabriele Adorno mit kraftvollem Tenor gezielt ungestümes Leben. Unter der Leitung von Yves Abel fuhr das Orchester der Deutschen Oper eine eindrucksvolle Kulisse zu dem emotionsgeladenen Ränkespiel auf, dem Chor hätte etwas mehr Aufmerksamkeit gut gestanden.

Veröffentlicht in Neues Deutschland

Dienstag, 21. November 2006

Kolloquium zum "Realistischen Musiktheater" in Berlin

Die Einheit von Oper und Wirklichkeit sind für den einen ein „rotes Tuch“, für andere eine absolute Notwendigkeit aktueller Inszenierungen. Mit dem Thema „Realistisches Musiktheater“ befasst sich an diesem Wochenende ein hochkarätig besetztes öffentliches Kolloquium in der Komischen Oper. Kooperationspartner ist die Freie Universität.

Im Mittelpunkt steht die Arbeit des Gründers und langjährigen Leiters der Komischen Oper, Walter Felsenstein. Mit seiner Ablehnung einer „kulinarischen Aufführungstradition“ und dem Versuch, die Oper von ihrer Künstlichkeit zu befreien, wird ihm eine wegweisende ästhetische Rolle in der Inszenierungs-Tradition der vergangenen Jahrzehnte zugewiesen. Mit seiner Arbeit und der von Regisseuren wie Götz Friedrich, Harry Kupfer, Ruth Berghaus, Calixto Bieito und Peter Konwitschny befassen sich die Vorträge renommierter Musik- und Theaterwissenschaftler sowie fachlich versierter Autoren und Theaterschaffender.

Anekdotisches wird von Joachim Herz zu erfahren sein. Der ehemalige Intendant der Komischen Oper war Anfang der 50er Jahre Assistent von Felsenstein und hält den Einführungsvortrag am Samstag. Wolfgang Behrens, Redakteur der Fachzeitschrift „Theater der Zeit“ referiert über die „Gefährdung der Wirklichkeit“ im Musiktheater, der Berliner Fachautor Friedrich Dieckmann blickt auf die Bayreuther Ring-Inszenierung von Patrice Chéreau (1976/77) zurück. Mit Wieland Wagner und seinen Inszenierungen befasst sich Klaus Schultz, Intendant und Chefdramaturg des Staatstheaters am Gärtnerplatz in München. Sein Thema: „Insezenierung als Interpretation zwischen Hemmnis und Antrieb.

Die Veranstaltung findet am 25. und 26. November jeweils von 10 bis 18 Uhr in der Probebühne 2 der Komischen Oper statt. Der Eintritt ist frei. Anmeldung erbeten unter 030-47 99 74 00. Informationen im Internet: www.sfb-performativ.de

Veröffentlicht in Neues Deutschland

Montag, 6. November 2006

Acht Bratschen können auch Musik

Am besten manövriert man sich aus der Schusslinie des Spotts, wenn man selbst ganz offensiv Witze über die eigene Spezies reißt. Genau so finden sich Malte Schaefer und seine sieben Leidensgenossen im Philharmonischen Staatsorchester Mainz mit ihrem Schicksal ab. Denn sie sind Bratscher. Opfer zahlreicher Bratscher-Witze, die alle Mantafahrer- und Ostfriesen-Kalauer überdauert haben, auf dass diese Berufsgruppe für immer gedemütigt sei. Dass es ihr dabei weder an Selbstbewusstsein noch an hervorragendem Nachwuchs fehlt, bewies die Bratschengruppe nun beim ersten Kammerkonzert dieser Spielzeit im Kleinen Haus.

Für dieses Konzerte hatten sie sich über Originalliteratur und originelle Bearbeitungen hergemacht. Denn tatsächlich kennt die Musikgeschichte das eine oder andere Werk für Bratschenensemble. Und was fehlt, wird einfach komponiert. So stand am Ende des Programms eine Uraufführung aus der Feder des Mainzer Chordirektors Sebastian Hernandz-Laverny.

Eröffnet wurde das Konzert, wie es sich im Theater gehört, mit einer Ouvertüre. Der, zu Gioacchino Rossinis „Barbier von Sevilla“. Die Bearbeitung von Oliver Tepe legte den Schluss nahe, dass man dafür nicht mehr als acht Bratschen braucht und der Zuhörer wunderte sich bald, wozu Rossini sich eigentlich den Aufwand mit dem großen Orchester gemacht hatte. Allerdings ließ sich hier anfangs erkennen, dass so mancher Viola-Vertreter noch dabei war, den Komfort der Tutti-Anonymität abzuschütteln. Sowohl in Intonation als auch beim Zusammenspiel musste dem Ensemble eine gewissen Orientierungsphase auf der Bühne zugestanden werden.

Doch gerade in den kleinen Besetzungen war Erstaunliches zu hören. So gelang eine Cassatio für fünf Violen des Haydn- und Mozart-Schülers Anton Wranitzky spritzig und akkurat, der Komponist nutzte dabei die weiche Klangfarbe des Instruments geschickt aus, die Interpreten nahmen die Vorlage dankbar für effektvolle Wendungen auf. Luftig-verspielt kam das vierstimmige „Nachtstück“ von Max Ritter von Weinzierl daher.

Nach einem unterhaltsamen Block, der unter anderem ein flottes Jazz-Tune von Ian Gammie in Anlehnung an den Standard „Lullaby of Birdland“ und Bernsteins „Somewhere“ aus der „Westside Story“ enthielt, bereitete sich das Oktett auf das Finale vor. Eine fantastische rhythmische Zugkraft entwickelten die Musiker bereits in einer Bratschen-Fassung von Astor Piazzollas „Libertango“. Schließlich stand die Uraufführung der „Introduktion, Cantabile& phantastische Fuge“ von Hernandez-Laverny an. Das Stück entpuppte sich als ein geschicktes Spiel mit der Vielstimmigkeit gleicher Instrumente, das mal in breiten elegischen Ausführungen, mal durch sanft drängenden Jazzmomenten seinen Ausdruck fand. Vor allem die komplizierte achtstimmige Fuge am Schluss forderte die Disziplin der Spieler deutlich heraus. Auf jeden Fall ist an diesem Abend ein ungewöhnliches Experiment gelungen und wartet nun auf die Fortsetzung.

Mädchenjazz mit Viktoria Tolstoy

Eies Tages waren sie da. Sie hatten sich die Gitarre umgeschnallt oder an den Flügel gesetzt und arbeiteten sich mit verträumten Akkorden und ebensolchem Blick durch die Clubs und Konzerthallen. Manchmal hatten sie auch ausschließlich ihre Stimme mitgebracht, dann ging das auch. Junge, mädchenhafte Frauen, die sich vorgenommen haben, ihren „eigenen Weg“ in der Musik zu gehen. Nicht bei einer Casting-Show Mitglied einer „Band“ zu werden, deren Halbwertszeit kaum mit den Veranstaltungsplänen seriöser Veranstalter überein zu bringen sind. Wer dann nicht den Chanson oder die Kleinkunst im Allgemeinen für sich entdeckt hat, dem kam noch die große Welt der jazzverwandten Musik entgegen. Denn hier gab es bis vor kurzem eine Nische, die nun besetzt ist und laufend Zuwachs erhält.

Viktoria Tolstoy gehört zu diesen Nischen-Spezialistinnen. Die 32-jährige Schwedin, die, bewusst oder unbewusst, nicht zuletzt wegen ihres wallenden blonden Haupthaares auf den ersten Blick schon für die lange verschollen geglaubte dritte Abba-Sängerin gehalten werden könnte, stellte nun im Frankfurter Hof ihr zweites Album vor. Nach „My swedish heart“ von 2005 hat sie binnen Jahresfrist nachgelegt. „Pictures of me“ heißt es und ist ein eingängiges Stück Scheibe geworden, dem man auf längeren Bahnfahrten beruhigt lauschen kann, sie macht schlichtweg Spaß, ohne anzuecken. Mit Paul Simons „Have a good time“, gibt sie das Motto treffend vor.

Was aus der Konserve so einen schönen Hintergrund beschert, wirkt auf der Bühne etwas beschaulich. Frau Tolstoy ist auf freundliche Melodien abonniert, die sie mit sauberer Stimme, fernab verruchter Jazzattitüde vorträgt. Glockenhell intoniert sie ohne jeden Fehltritt, ihre Präsenz wird von betonter Akkuratesse geprägt. „Te Amo Corazón“, das sie von Prince ausgeliehen hat, wickelt sie sanft abgehangen ab, als behutsam-kitschige Ballade legt sie die ihr von Lars Danielssohn geschriebenen „Women of Santiago“ an.

Alles ist bis ins kleinste Detail auf den sicheren Effekt abgestimmt, der ihr auch immer wieder glückt. Schwachstellen hat ihre Stimme keine, aber gerade das lässt sie ein wenig beliebig wirken und dann doch an die Casting-Show denken. Denn dieses in ihrem Milieu so häufig bemühte „Eigene“, lässt sich nicht finden. Leider kann sie keine eigenen Geschichten erzählen, ein wesentlicher Bestandteil, der ansonsten den Reiz eines jeden nachhaltig wirkenden Künstlers ausmacht. Das Publikum im Frankfurter Hof hatte dennoch eine gute Zeit und niemand will ihm das verübeln.

Minimal-Jazz in epischer Breite. Das Tord Gustavson Trio in Mainz

Die drei Herren lassen sich Zeit. Wenn eine Sinfonie oder Sonate eine Dauer von 20 Minuten und mehr aufweist, dann wundert sich wohl niemand darüber. Im Gegenteil: das muss so sein. Im Jazz ist das anders. Wer epische Längen anpeilt, sollte auf jeden Fall auch das musikalische Material dafür zu bieten haben. Beim Tord Gustavson Trio ist das so eine Sache. Minimalistische Klavierakkorde vom Namensgeber, verträumte Bass-Tupfer von Harald Johnsen und sinnierende Besenschläge aus Jarle Vespestads Händen ergeben zusammen eine elegische Melancholie, die zuweilen deprimierend wirkt – zumal fast immer in Moll gehalten.

Die norwegischen Musiker haben die Langsamkeit gepachtet und weichen auch im Frankfurter Hof nur in äußerst seltenen Ausnahmen von ihrer selbst gewählten Regel ab. Ewig ziehen sich Melodie-Einfälle, die dann auch noch in ihre Bestandteile aufgelöst, nahezu atomisiert auf unzählige Takte ausgebreitet werden. Das wirkt detailreich, ist aber oft nur die zigfache Wiederholung ein und derselben Idee, manchmal mit dezenten Variationen, ganz selten einmal in neuer Verarbeitung oder Durchführung.

Die Beschaulichkeit ihres Spiels enthebt die drei Musiker der Notwendigkeit, sich mit besonderer Virtuosität zu brüsten. Darüber zumindest scheinen sie absolut erhaben. Derart verinnerlicht und oft seltsam abwesend, wie vor allem Tord Gustavson wirkt, begibt sich das Trio vornehmlich in eine ganz eigene Welt. Sie spielen, so hat es oft den Anschein, vor allem für sich selbst, sie probieren gerne in aller Behutsamkeit neue Gabelungen nach der einen oder anderen Improvisation aus, scheinen sich während des Spiels ausreichend Gedanken über die Akkordfolgen machen zu können.

Was dabei musikalisch heraus kommt, ist sicherlich nicht jedermanns Sache. Es braucht schon viel Einfühlungsvermögen und Bereitschaft zur Aufgabe gewohnter Tempovorstellungen und Erwartungen, um sich ein komplettes Konzert lang den Vorgaben des Trios anzupassen. Hier sind Konzentrationsfähigkeit und Durchhaltewille gleichermaßen gefragt. Zwar verpasst man nichts, wenn man mal kurz einnickt oder ein Getränk holt, doch wer einmal den Versuch unternommen hat, sich für einen Moment dieser Musik zu entziehen, um dann wieder dazu zu stoßen, hat feststellen müssen, dass er dabei in atmosphärische Schwierigkeiten gerät.

Sei’s drum. Zeitgenossen, die sich einmal so überhaupt nicht um auch im Jazz mittlerweile eingebürgerte Taktungen zwischen drei und zehn Minuten scheren möchte, werden hier gut bedient. Das Tord Gustavson Trio gibt sich nicht mit Häppchenkultur zufrieden, sondern will jedes Stück Musik bis zum letzten Tropfen auskosten. Und sei noch so wenig darin an Neuem und Aufregendem enthalten. Muss ja auch nicht immer.

Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz

Sonntag, 5. November 2006

Mozarts "Zauberflöte" in Mainz

Jürgen Bosse erzählt am Mainzer Staatstheater Mozarts „Zauberflöte“ als intergalaktische Abenteuerreise und schreckt vor Klamauk nicht zurück.

Plötzlich steht Prinz Tamino in einer fremden Welt. Er weiß nur noch, dass er mit einem Ungeheuer gekämpft hat und gerettet wurde. Die neue, etwas bizarre Welt bringt ihm die Bekanntschaft mit dem tölpelhaften, aber gutmütigen Papageno, der fortan sein Begleiter ist. So weit ist die Angelegenheit klar, die Inszenierung von Jürgen Bosse und die Bühne von Susanne Maier-Staufen lässt Erinnerungen an „Peterchens Mondfahrt“ und den „Kleinen Prinzen“ wach werden. Zumal sich die Protagonisten immer auf einer konvexen Oberfläche tummeln und ab und an ein Sternenvorhang fällt. Eine niedliche Zeichentrickatmosphäre macht sich spätestens dann breit, wenn die drei Knaben in einer Raumkapsel über die Bühne fliegen.

Tatsächlich müssen unsere Helden auf ihrer Abenteuerreise so eine Art Irrfahrt durchs Universum antreten, um dabei ihre Prüfungen zu bestehen. Die Idee ist irgendwie verlockend, meist gelingt die Umsetzung auch ohne grobe Schnitzer. Wäre dem Schauspielregisseur Bosse doch bloß nicht zwischendrin langweilig geworden. Irgendwie schien es ihm uninteressant, einfach nur Oper zu erzählen. So lässt er seinen Papageno im zweiten Akt plötzlich die Geschichte unterbrechen und eine alberne Groteske beginnen. Unvermittelt steht er im Publikum, faselt etwas von Württemberger Wein und der „Schwäb’sche Eisebahn“, kalauert bubenhaft herum und überschreitet im Zwiegespräch mit dem Publikum die Grenze zum Klamauk merklich. Spätestens als er zusammenhanglos mit Menschenknochen auf einem Sarg trommelt und mit einen Totenschädel jongliert, verkommt die Szene zur biederen Kopie einer wohlfeilen Provokation, die nur noch lächerlich wirkt.

Musikalisch kann sich das Staatstheater derzeit solche Eskapaden nicht leisten, wie ein Blick auf das Ensemble schnell erkennen lässt. Da ist ein durchaus solider und beständiger Alexander Spemann als Tamino zu erleben, der aber neben aller spielerischen Erfahrung einen mittlerweile bedenklich angeschlagenen Tenor führt. Hans-Otto Weiß fehlt für den Sarastro schlichtweg die Tiefe. Eigens für die „Königin der Nacht“ nach Mainz engagiert, verwirrt Ana Durlovski mit schwerem und kehligem mittleren Register, kann dafür mit unerwartet flüssigen und leichtfüßigen Koloraturen überraschen. Eine angenehme Ausnahme beschert Tatjana Charalgina in der Rolle der Pamina mit gelöstem, wandlungsfähigem Sopran und beweglichem Spiel. Auch Patrick Pobeschin ist als Papageno eine hervorragende Besetzung, der Neuzugang wertet das Ensemble mit seiner unverbrauchten, leistungsfähigen Stimme spürbar auf.

In den kleineren Rollen fallen Mareen Knoth als kokette Papagena sanglich pointiert und Martin Erhard als klar formulierender, für den Monostatos vielleicht etwas zu hell gefärbter Tenor auf. Auch Mark Bitter, Janni Kücher und Tilman König vom Mainzer Domchor bewältigen ihre anspruchsvollen Partien der Drei Knaben mit Bravour. Unter der Leitung von Thomas Dorsch ist das Philharmonische Staatsorchester an diesem Abend nicht mehr und nicht weniger als ein zuverlässiges Begleitorchester, dem Chor hätte mehr Aufmerksamkeit sicherlich gut gestanden.

Veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse

Mittwoch, 1. November 2006

Rimski-Korsakows Oper "Die Zarenbraut" in Frankfurt

Ja, Nikolai Rimski-Korsakow hat Opern geschrieben, auch wenn man das mit Blick auf deutsche Spielpläne allmählich vergessen könnte. Die Frankfurter Oper hat nun seine „Zarenbraut“ auf die Bühne gebracht, ein wuchtiges Stück, über das sich viele Fachlexika nach wie vor ausschweigen. Frankfurt schließt damit eine Lücke – denn hier wurde noch nie ein Stück des russischen Komponisten gespielt, wie Intendant Bernd Loebe vor Beginn der Spielzeit geäußert hatte. Darum durfte das Publikum gleich mehrfach gespannt sein. Die Inszenierung lag in den Händen des Norwegers Stein Winge, der in der vergangenen Spielzeit hier mit Smetanas „Verkaufter Braut“ debütierte. Jetzt hatte er ein üppig schwelgendes Werk vor sich liegen, das mit großen Gesten und viel Emotion daherkommt.

Zwei Frauen befinden sich im Fadenkreuz patriarchalischer Machtausübung. Marfa entstammt einer obrigkeitshörigen Familie und ist dem ebenso regimetreuen Adligen Lykow versprochen, den sie schon aus Kinderzeiten kennt. Beide fügen sich jedoch dem Willen des Zaren, der Marfa zu seiner Braut erwählt hat. Ljubascha ist im Gegensatz dazu eine Kämpfernatur. Sie wurde von Grjasnoi, einem Mitglied der berüchtigten zaristischen Geheimpolizei auf einem Raubzug erbeutet, der nun aber ein Auge auf Marfa geworfen hat. Die Zurückgestoßene, die sich mittlerweile in ihren Eroberer verliebt hat, will ihn nicht aufgeben, sondern sinnt auf Rache. Sie vergiftet schließlich die Rivalin, der sie ein Liebespulver, das Grjasnoi für die Angebetete vorbereitet hat, mit einer tödlichen Substanz vertauscht.

Zu Beginn der Inszenierung kann der Zuschauer noch eine zeitgemäße Interpretation mutmaßen. Die Feier Grjasnois findet in einer Art Nachtclub statt, die gefürchteten „Opritschniki“ wirken wie eine mafiöse Schlägerbande. Schon im ersten Akt konfrontiert Stein Winge sein Publikum mit einer minutenlangen Vergewaltigungsszene. Während die zaristische Privatarmee ihr rituelles Lied singt, vergehen sich ihre Mitglieder der Reihe nach an einem wahllos von der Straße geholten Opfer, das anschließend per Kopfsschuss „entsorgt“ wird. Das bleibt aber weitestgehend die einzige Situation, in der sich der Regisseur Eigenmächtigkeiten erlaubt. Später gerät der Verlauf gänzlich konventionell, von der Bojaren-Datscha bis zum Zarenpalast. Ein merkwürdiger Bruch, der sich auch während der Premiere nicht von selbst erklärt. So scheint es, als habe Stein Winge mitten in der Arbeit einfach seine Meinung geändert.

Musikalisch erlebte das Premierenpublikum ein wahres Sängerfest. Als Marfa brillierte Ensemble-Mitglied Britta Stallmeister stimmlich absolut überzeugend und szenisch wandlungsfähig bis zum sich hinziehenden Zerfall. Ihr Abschiedslied in den letzten Zügen der Vergiftungsfolgen gerät ergreifend und innig. Kraftvoll gibt Johannes Martin Kränzle den Opritschnik Grjasnoi, den er mit kernigem Volumen ausstattet. In der Rolle der Ljubascha war die russische Mezzosopranistin Elena Manistina erstmals in Frankfurt zu hören. Vom A capella vorgetragenen Todessehnsucht-Lied im ersten Akt an beeindruckte sie durch sangliche Tiefe und eine enorme Bühnenpräsenz. Michail Jurwoski, kürzlich als Chefdirigent an das WDR-Rundfunkorchester verpflichtet, spornte das Museumsorchester zu wuchtigen Klangkulissen an, die aber auch immer wieder differenzierter Ensemblebegleitung wich. Ein präzise und spielfreudig agierender Chor komplettierte eine musikalisch kompromisslos gelungene Produktion.


Veröffentlicht in der Wetzlarer Neuen Zeitung

Samstag, 28. Oktober 2006

Klavierduo Gröbner/Trisko im Holzhausenschlösschen Berinl

Das Klavierspiel zu vier Händen gehört zur ganz großen Tastenkunst, die unbedingtes Einverständnis zwischen den beteiligten Künstlern fordert. Denn wenn sich zwei Pianisten die 88 Tasten teilen müssen, sind sie wie in keiner anderen Duo-Formation voneinander abhängig. Ein Fehlgriff, eine musikalisch anders geartete Einschätzung des Partners und die gesamte Interpretation steht auf dem Spiel, schließlich kann jede Taste nur ein mal gedrückt werden. Vielleicht gibt es international auch deshalb nur so wenige ausgezeichnete Klavierduos. Aus Österreich scheint sich Nachwuchs anzukündigen, von dem in Zukunft noch mehr zu hören sein wird. Mit Johanna Gröbner und Veronika Trisko waren bei den „Europa Kulturtagen“ nun zwei junge Pianistinnen zu Gast, die ohne weiteres auf Augenhöhe mit den Großen ihrer Zunft, von Önder bis Stenzl spielen. Es waren die Brahms-Variationen über ein Thema von Robert Schumann op. 23, die zum ersten Mal wirklich aufhören ließen. Da zeigten sie ein untrügliches Gespür für effektvolle Details und stiegen mit spürbarer Begeisterung in die Klangwelt des Komponisten ein, die mal zum zerreißen gespannte Atmosphäre bot und mal lakonischen Variationenreichtum streifte. Von Schumanns „Bildern aus dem Osten“, bei der sich der Komponist von arabischen Rückert-Adaptionen inspirieren ließ, erzählten die jungen Pianistinnen in ungekünstelter und doch kunstfertiger Manier, führten kleine, in sich geschlossene Charakterstudien vor. Müßig, von ihrer absoluten technischen Präzision zu sprechen, die schließlich zu einem prasselnden Temperamentsausbruch in einer Auswahl „Ungarischer Tänze“ von Johannes Brahms führte.

Veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse

Montag, 23. Oktober 2006

Tosca leidet unter Pinochet - Puccinis "Tosca" im Staatstheater Darmstadt

Bei der Operninszenierung an sich gibt es eine Menge Dinge, die gründlich schief gehen können. Am gefährlichsten ist es, ein Stück aus seinem historischen Kontext heraus zu brechen und in eine andere, markante und dem Publikum noch recht präsente Zeit zu verlegen. Unabhängig einmal vom Textverständnis sind damit eine Reihe dramaturgischer Stolperfallen vorprogrammiert. Eine besondere Herausforderung stellt es dann noch dar, dieses Wagnis bei einem Publikumsliebling einzugehen. Philipp Kochheim hat das nun mit Giacomo Puccinis „Tosca“ in Darmstadt getan und ist beim Premierenpublikum gnadenlos durchgefallen. Entrüstung schlug dem Ensemble schon nach dem ersten Akt entgegen.

Völlig zu unrecht. Denn Kochheim ist mit Mut und Konsequenz ein ausgezeichneter Transport des Stoffes in die Zeit der Militärdiktatur von General Pinochet gelungen. Die Konfliktlinien ähneln sich, die Methoden auch. Bei Puccini lehnen sich Anhänger Napoleons gegen die Restauratoren der Monarchie auf, Kochheim skizziert den Freiheitskampf gegen die Militärdiktatur. Alles beginnt bei ihm am schicksalhaften 11. September 1973, als Pinochet gegen die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes putschte. Der gestürzte Konsul Angelotti ist nun ein widerständischer Gewerkschafter, Cavaradossi kein Kirchenmaler, sondern ein Fotograf.

Im Mittelpunkt steht in dieser Inszenierung die Brutalität eines Regimes, das sich in seiner besonders gefährlichen Mischung aus persönlicher Perversion und Eitelkeit sowie politischem Fanatismus in der Gestalt des Scarpia widerspiegelt. In dem Bariton Tito You hat Kochheim einen sängerisch wie schauspielerisch überaus präsenten Darsteller gefunden, der die Rolle bis zur bizarren Dämonie zuspitzt. Unbekümmert lässt er Anja Vinckens eindringlich formulierte Tosca-Arie „Vissi d’arte, vissi d’amore“ an sich abprallen, ihr vorgebliches Selbstopfer nimmt er freilich an.

Kochheim und Uta Fink, die für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich ist, lassen dem Zuschauer nur wenig Zeit zum Durchatmen. Sie arbeiten mit deutlichen Bildern. Cavaradossi (ausdauernd und wendig: Zurab Zurabishvili) werden die Augen ausgestochen, die Erschießungs-Szene findet im berüchtigten Nationalstadion in Santiago statt – dort, wo seinerzeit Tausende von Menschen unter brutalen Bedingungen zusammengetrieben und ermordet wurden. Auch in diesem Bühnenbild erkennt man deutlich, dass hier bereits gestorben wurde, Toscas finaler Selbstmord am elektrisch geladenen Zaun ist da nur konsequent. Und der Vorhang trieft schon nach dem ersten Akt vor Blut. Unter der Leitung stellvertretenden Generalmusikdirektors Martin Lukas Meister illustriert das Orchester das Bühnengeschehen mit ausgesuchter Schärfe und Präzision.

Kochheims Inszenierung ist direkt und verstörend. Hier kommt niemand heraus, ohne sich über die Wiederkehr historischer Ereignisse Gedanken gemacht zu haben. Die Distanz von 200 Jahren ist hier kein Vorwand mehr, um sich an üppigen Melodien zu erfreuen und damit den Inhalt aus den Augen zu verlieren. Dass das nicht jedem gefallen kann, ist klar.

In Abwandlungen veröffentlicht u.a. in der Frankfurter Neuen Presse und im Main-Echo

Sinfoniekonzert des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz

Jugendwerke werden entweder als Wegweiser eines früh erkannten Genies gewertet oder als dilettantische Fingerübung abgetan. Aber sie haben ihren Reiz. Vielleicht deshalb, weil wir es so faszinierend finden, wenn ein Teenager ein ganzes Orchester zum Klingen bringt. Franz Schubert und Felix Mendelssohn-Bartholdy haben das vollbracht, das Philharmonische Staatsorchester Mainz hat deren sinfonische Erstlinge nun als Klammer für sein zweites Sinfoniekonzert der Saison genutzt.

Dazwischen zwei Zeitgenossen. Ein jüngerer, der dem Mainzer Publikum seit seiner hier uraufgeführten Oper „Kein Ort. Nirgends“ ein Begriff ist. In Anno Schreiers „Nachtstück (Durchbrochene Szene 2)“ für Orchester spielen Zeit und Linearität eine untergeordnete Rolle. Es geht vielmehr um atmosphärische Streiflichter einer eher unwirklichen Situation. Ansätze, daraus auszubrechen, kommen nicht weit – sie verenden oder kumulieren. Beides sehr eindrucksvoll und kunstfertig. Skizzierte Nachtgestalten wirken flüchtig, egal ob sie pfeifen oder rumpeln, ob sie singen, hinken oder toben. Sie sind in ihrer bewussten Verschwommenheit merkwürdig real.

Ähnlich wie in den „Vier Fragmenten für Orchester“, die hier in ihrer revidierten Fassung uraufgeführt wurden, besticht Schreiers Tonsprache durch konzeptionelle Besonnenheit. Geschwätzigkeit oder Stereotype kommen nur als Parodie vor. Die bunte Collage der „Fragmente“ beherbergt auch Zitate älterer und jüngerer Meister, die in originaler, stark verknappter Form zum Zuge kommen. Virtuos spielt Anno Schreier mit dem Material Anderer und entwickelt damit eine eigene pointierte Klangkultur.

In den atmosphärisch dominierten Reigen fügt sich „La selva incantata“ von Hans Werner Henze bestens ein. Das Orchesterstück ist seiner Oper „König Hirsch“ entnommen und für den konzertanten Gebrauch extrahiert. Für die Streicher eine gut genutzte Möglichkeit, Präsenz und Stilsicherheit zu beweisen. Eine weniger glückliche Figur machten sie in Schuberts c-Moll-Ouvertüre für Streichorchester. Da fielen gerade die ersten Geigen durch unsichere Einsätze und Intonations-Mängel auf.

Zum Schluss die erste Sinfonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy, in die Thomas Dorsch das Orchester mit süffiger Wucht einsteigen ließ. Auch das pulsierende Scherzo verfehlte seine Wirkung nicht. Dorsch trieb das Orchester mit weiträumigen Gesten an, arbeitete impulsiv und mit einem Höchstmaß an Engagement. Dass er dabei die Arbeit am Detail nicht aus dem Blick verlor, ließ sich an einem lebendigen Orchesterklang deutlich ablesen.

Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz

Montag, 16. Oktober 2006

Mozarts "Idomeneo" am Staatstheater Wiesbaden

Was man verspricht, muss man auch halten. Das bekommen schon kleine Kinder beigebracht. Und gerade ein König sollte da schon Vorbild sein. Idomeneo ist keines. Der Kreterkönig schachert und verhandelt, nachdem sich sein Versprechen gegen ihn zu wenden scheint. Auf der Rückreise vom siegreichen Feldzug gerät der Kriegermonarch in einen Sturm, erleidet Schiffbruch und bietet Poseidon einen Handel an: Wen er nach seiner Rettung als erstes an Land trifft, den wird er opfern. Das Schicksal meint es nicht gut. Am Strand von Kreta wartet Idamante, sein Sohn, der in Idomeneos langer Abwesenheit das Reich erfolgreich regiert hat. Bis schließlich ein Deus ex machina das Dilemma löst, schwelt drei Akte lang ein intensiver Konflikt zwischen Staatsräson und einer Reihe von Spielarten der Liebe.

Da liegt einiges an Zündstoff drin, zumal die Dramenvorlage von Antoine Danchet der griechischen Vorlage auch noch eine Liaison des Kreterprinzen mit Ilia, der Tochter des besiegten und getöteten Trojanerkönigs Priamos hinzufügt. Für den Fortgang der Handlung geradezu hinderlich, also dramaturgisch umso herausfordernder ist da noch die vergebliche Liebe der zornigen Elektra, Tochter Agammemnons, die in der Kriegsgefangenen Ilia nichts als die Rivalin sieht.

In Wiesbaden ist es leider nicht einmal im Ansatz gelungen, mit der Mozart-Oper eine spannende Geschichte zu erzählen. Eine konzertante Aufführung hätte hier die gleiche Wirkung erzielt wie die ideenlose und uninspirierte Inszenierung von Cesare Lievi, der damit den seit 2002 am Staatstheater laufenden Mozart-Zyklus nach Zauberflöte, Figaros Hochzeit und Cosi noch eins draufsetzt. Kalt und abweisend ist seine Sprache, das allein wäre kaum einen Vorwurf wert. Doch dass er die handelnden Personen streckenweise unbeweglich und beziehungslos auf der Bühne vereinsamen lässt, macht einfach keinen Sinn und ist höchst ärgerlich. Emotionen? Fehlanzeige.

Lievi scheint gar nicht erst den Versuch zu unternehmen, das Stück zu sich nehmen zu wollen, verordnet seinen Protagonisten zudem zigfach gesehene hohle Bühnengesten. Ob er schlicht gelangweilt war? Die Figuren stehen so starr umher wie die Säulen des unterkühlt mondänen Bühnenbildes von Csába Antal. Manchmal werden sie hektisch, rennen, wie in der ersten Begegnung zwischen Vater und Sohn ziellos umeinander herum. Idamante wird zum blassen Gutmenschen, Idomeneo eher ein verwirrter Greis, denn ein zerrissener Monarch und verzweifelt liebender Vater. Auch und gerade in Marina Luxardos betont nüchtern gehaltenen zeitgemäßen Kostümen hätten gut verständliche Dialoge entstehen können. Stattdessen freudlose Tristesse.

Indem es Lievi nicht gelingt, Spannung zu erzeugen oder Momente zu inszenieren, in denen einfach einmal nicht gesungen wird, nimmt er „Idomeneo“ jedes Tempo. Als historisch fast rückwärts gewandten Beitrag zur Opera seria hat Mozart seinerzeit alle Register gezogen, damit das Auftragswerk, ein Beitrag zur höfischen Mannheimer Karnevals-Saison 1781, ein effektvolles Stück wird. Und nachdem Lievi diese Bemühungen 225 Jahre später erfolgreich untergraben hat, bemüht sich das Wiesbadener Ensemble nun nach Kräften, zu retten, was ging: Die Musik. Was bleibt ihnen auch anderes übrig.

Hier zumindest gibt es kaum Anlass zum Anstoß. Zur Titelpartie ist dem Haus ausgiebig zu gratulieren. Als Gast konnte der südafrikanische Tenor Kobie van Rensburg gewonnen werden. Er kennt die Rolle gut, war in der vergangenen Spielzeit damit etwa im Staatstheater am Gärtnerplatz in München zu erleben. Ihm gelingt es auch am ehesten, aus der verordneten Hilflosigkeit ein wenig auszubrechen. Stimmlich ist er fantastisch aufgestellt, überzeugt restlos in anstrengenden Koloraturen und ist auch nach bald drei Stunden Dauereinsatz noch unverkrampft und spielfreudig.

In der Rolle des Idamante überspielt Ute Döring rasch anfängliche Unsicherheiten, geht souverän mit der Situation um. Annette Luig erklimmt gerade in ihrer letzten Szene als von Eifersucht zerfressene Elektra beeindruckende Höhen, Jud Perry kann als Königsvertrauter Arbace vor allem mit etwas unwirklich schillernder Bühnenpräsenz Spuren hinterlassen. Unaufdringlich und anrührend füllt Thora Einarsdottir die Rolle der Ilia mit mädchenhaftem Charme aus, gestaltet die kleinen Wandlungen der ansonsten eher eindimensional angelegten Figur souverän und autark. Ihr angenehm weiches Timbre nutzt sie für eine Reihe erinnerungswürdiger Momente.

Generalmusikdirektor Marc Piollet und dem Hessischen Staatsorchester ist ein kultivierter, stets durchsichtig und ausgewogen gehaltener Klang zu verdanken. Historisch informiert und mit einem Höchstmaß an künstlerischer Beteiligung ausgestattet ist das Orchester ein empfindsamer Begleiter und präsenter Kommentator gleichermaßen. Ein solider Chor (einstudiert von Christof Hilmer) ergänzt die Produktion routiniert. Freundlicher Applaus.

Veröffentlicht in unterschiedlicher Fassung u.a. in Frankfurter Neue Presse und Main-Echo

Sonntag, 15. Oktober 2006

Anno Schreiers Oper "Kein Ort. Nirgends" nun auch im Mainzer Staatstheater

Und noch einmal „Kein Ort. Nirgends.“ Ein Aufguss des bereits gesehenen? Mitnichten. Im Kleinen Haus des Mainzer Staatstheaters bleibt alles anders. Was Wochen zuvor am nahezu authentischen Ort in Oestrich-Winkel am Rhein funktioniert hat, wäre in der klassischen Bühnensituation nicht angekommen. Und so hat sich Regisseurin Anna Malunat erneut ans Werk gemacht und die Oper von Anno Schreier wieder uraufgeführt. Die Vorlage der Erzählung von Christa Wolf wurde von Librettist Christian Martin Fuchs auf wenige wesentliche Details ausgeschabt, womit ihm das scheinbar Unmögliche gelungen ist. Denn dass der subtil verfranste monologartige Text jemals auf die Bühne kommen könnte, hätte sich wohl kaum jemand vorher denken mögen.

Der Konflikt zwischen Anspruch und Realität, gesellschaftlicher Norm und persönlicher Emotionalität, in dem sich die jungen Dichter Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist zurechtfinden müssen, ist in Mainz zwar nicht so unmittelbar zu erleben, wie in der Brentano-Scheune, doch auch hier geht er nicht am Publikum vorbei. Konnte Anna Malunat dort noch den Raum als Bühne nutzen, wahrt sie hier die tradierten Grenzen. Ein unbestreitbarer Vorteil daran ist, dass die Musik nun viel unmittelbarer wirken kann, da sie, wie gewohnt, frontal vor dem Zuhörer erklingt.

Wieder ist Kleist „hautlos unter Menschen“, kann sich nicht wehren, ebenso wenig wie die Kollegin, die er im realen Leben nie kennen gelernt hat. Beide entziehen sich irgendwann durch Selbstmord. Dazwischen müssen sie auf teilweise stupide Realitäten und Rivalitäten acht geben, die sie nur vom Leben abhalten.

Dass sich neben dem fest engagierten Neuzugang Patrick Pobeschin (Kleist) ausnahmslos Mitglieder des Jungen Ensembles dieser Produktion angenommen haben, verleiht der Inszenierung eine eigentümliche Authentizität. Stehen sie doch biografisch an genau der gleichen Stelle wie die Figuren, die sie größtenteils verkörpern: Am Anfang ihrer Karriere. Anna Malunat, ebenfalls solide diesseits der 30, geht unverkrampft ans Werk. Mit einer gewissen Gelassenheit verführt sie ihr Publikum zum Zeitsprung. Vorne hängt Honecker, hinten wird Mobiliar aus dem 19. Jahrhundert aufgefahren. Dazwischen wechseln die Protagonisten die Kostümierung nach Belieben.

Diana Schmid kann darstellerisch wie gesanglich als Günderrode überzeugen, verleiht ihr diesen seltsam unwirklichen Charme, Pobeschin hängt seine Figur sichtlich zwischen die Stühle. Gemeinsam mit Sonja Gornik, Sarah Kuffner, Daniel Jenz, Florian Rosskopp und Arthur Pirvu bilden sie ein optimal aufeinander eingespieltes, künstlerisch enorm leistungsfähiges Ensemble.

Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz

Samstag, 14. Oktober 2006

Das etwas andere Konzert: Klaviermusik im Künstleratelier

Fernab der kulturellen Zentren verbergen sich hinter den Mauern des Mainzer Stadtlebens eine Reihe privater Schätze, die es immer wieder einmal zu bergen gilt. In Wohnzimmern und Loftetagen, Ateliers und Kellerräumen engagieren sich Mainzer Bürger auf vielfältige Art und Weise. Ein besonders gelungenes, weil auch unaufdringliches Beispiel ist das von Christiane Schauder. Sie selbst stammt aus dem Hunsrück, hat an der Johannes Gutenberg-Universität studiert und lebt seit Mitte der 80er Jahre als freischaffende Künstlerin in Mainz. Seitdem hat sie eine Reihe Arbeitsstipendien erhalten und pflegt gute internationale Beziehungen, unter anderem nach China, wo sie einen Lehrauftrag an der Academy of Fine Art der Shanghaier Universität wahrnimmt.

Gemeinsam mit ihrem Mann Günter Minas organisiert sie seit 1997 die Neustadter Kunstbiennale „3 x klingeln“, Cineasten ist sie als Mitbegründerin und langjährige Vorsitzende der AG Stadtkino bekannt, die das CinéMayence betreibt. Nun hat sie aus einem biografischen Zufall eine kulturelle Initiative entstehen lassen. Nach dem Umzug ihrer Mutter, hatte die keinen Platz mehr für ihren Flügel und so wurde das Instrument, ein in die Jahre gekommener aber hervorragend bespielbarer Ibach, kurzerhand in Christiane Schauders Atelier in der alten Waggonfabrik verfrachtet. Hier fand nun bereits zum zweiten Mal in privater Atmosphäre ein Hauskonzert der besonderen Art statt. Zahlreiche Bekannte und Freunde des Künstlerpaares hatten die Gelegenheit wahrgenommen, sich zwischen Farbtuben und Leinwänden einen Klavierabend zu vier Händen anzuhören.

Dafür konnten die Musikwissenschaftler Diana Bickley und Jens Rosteck gewonnen werden, die an diesem Abend den Beweis antraten, dass Forschung und künstlerische Leistung durchaus miteinander in Einklang gebracht werden können. Das Duo konzertiert ausschließlich bei solchen Hauskonzerten und war damit bereits in Paris, Amsterdam, Edinburgh und New York zu Gast. Das vorwiegend französische Programm enthielt selten gespielte Stücke wie die „Trois morceaux en forme de poire“ (Drei Stücke in Birnenform) von Erik Satie. Das Duo spielte die sieben Miniaturen als augenzwinkernde Bonmots mit ausgesuchter Akkuratesse und Leichtigkeit. Auch Schuberts Fantasie in f-Moll op. 103 gelang kenntnisreich seziert, ohne dabei die emotionale Wirkung außer Acht zu lassen. Werke von Poulenc, Ravel und Fauré rundeten einen gelungenen und abwechslungsreichen Abend ab.

Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz

Mittwoch, 4. Oktober 2006

"Requiem" von Karl Jenikns mit dem Chor von St. Bonifatius in Wiesbaden

Das Experiment ist geglückt. In St. Bonifatius war nun einmal ein so ganz anderes Requiem zu hören. Es stammt von Karl Jenkins, einem britischen Komponisten, der vor allem durch Musik für Ferseh-Werbung und die Popindustrie im Allgemeinen bekannt geworden ist. Doch das, was Gabriel Dessauer nun entdeckt und mit seinem Chor und dem Kammerorchester „arco musicale“ zum Tag der deutschen Einheit aufgeführt hat, ist fernab von vereinfachenden Melodien und Rhythmen, die auf den raschen Effekt zielen. Im Gegenteil: Die Wirkung dieser Musik entfaltet sich im sakralen Raum auf eine ungeahnt tiefgründige Art. Diese Musik ist leicht verständlich, wirkt aber nie banal.

Ein weicher, üppig dimensionierter Chorklang steht am Anfang des Werkes, schon hier vermittelt der Bonifatius-Chor einen ersten Einblick in seine dynamischen Möglichkeiten. Konsequent ausgesungene Spannungsbögen sind im „Kyrie eleison“ zu hören. Dann schon der erste harte Kontrast. Das „Dies Irae“ entpuppt sich als eine scharf pointierte Hip-Hop-Nummer, die in orchestraler Fülle daherkommt. Chromatisch aufsteigende Bläserlinien werden später von den Männern übernommen, dazwischen rammt das Chortutti präzise Einwürfe zu ostinaten Schlagzeugsequenzen. Der Satz gipfelt schließlich in einer pulsierenden Überlagerung der Stimmen und einem schroffen Abschluss. Spontaner Szenenapplaus ist die Folge.

Später wird es deutlich ruhiger, dem Chor gelingt es tadellos, die unterschiedlichen Charaktere der Sätze zu transportieren. Etwa die vielfachen Aufschreie im „Rex Tremendae“ und den gleichmäßig treibenden Dreiertakt, in den sie eingebettet sind. A capella wirkt das „Confutatis“ wie ein schlichter Choral, erhält dann mit instrumentaler Begleitung den Charme einer illustrierenden Filmmusik. Bis hin zum glatten, versöhnlichen Klang des Abschlusschores „In Paradisum“ liefern die Sängerinnen und Sänger eine ausgesprochen lebhafte Interpretation ab, die von ihren Kontrasten gleichermaßen lebt wie von der gut strukturierten Durchhörbarkeit des Klanges.

In den Requiem-Text hat Jenkins feine japanische Haikus eingeflochten, die wie filigrane Kleinode zwischen den Sätzen sitzen. Anton Dessauer (Knabensopran), Ute Steffan (Harfe) und Lars Asbjörnsen (Shakuhachi) gehen mit diesen kleinen Inseln äußerst behutsam um, treten dabei in vorsichtige Dialoge mit dem meist im akkuraten Piano verharrenden Chor ein. Das Instrumental-Ensemble fügt sich optimal in den Klang ein, übernimmt eine zuverlässig stützende Rolle. Gabriel Dessauer führt seine Ensembles mit großem Engagement und detailreichem Dirigat, das seine Wirkung nie verfehlt. Minutenlanger, herzlicher Applaus und stehende Ovationen in der bestens gefüllten Kirche.

Veröffentlicht im Wiesbadener Kurier / Wiesbadener Tagblatt

Montag, 2. Oktober 2006

Nino Rotas "Florentiner Hut" in Weimar

Bei Komödien, die auf den ersten, zweiten und dritten Blick als belanglose Possen mit hohem Unterhaltungswert daher kommen, neigt Mancher gerne einmal dazu, nachträglich einen gesellschaftskritischen Sinn zu interpretieren. So ergeht es auch dem Stück von Eugène Labiche, das Nino Rota 1944 unter dem Titel „Der Florentiner Hut“ zur Oper werden ließ und das elf Jahre später in Palermo uraufgeführt wurde. Juliane Schunke reduziert die gesellschaftliche Überhöhung im Programmheft zur Weimarer Aufführung immerhin auf eine „Burleske der menschlichen Existenz“ oder „gnadenlose Entblößung allgemein-menschlicher Schwächen“. Mehr ist es sicherlich nicht.

In der Tat gibt es eine Menge Grund zur Schadenfreude in diesem temporeichen Stück, das hierzulande eher selten gespielt wird. Da versucht Fadinard, ein wohlhabender Pariser Bürger (Uwe Stickert), einen vermeintlich ganz besonderen Hut wieder zu besorgen, den zuvor sein Pferd aufgefressen hat. Das Pikante an der Situation: Die Besitzerin Anaide (Christiane Bassek) hatte ihn auf, als sie sich mit ihrem Liebhaber, dem Offizier Emilio (Alexander Günther) getroffen hat, wovon ihr Ehemann Beaupertuis (George Gagnidze) natürlich nichts erfahren darf. Der Zeitpunkt ist doppelt ungünstig, weil sich Fadinard mitten in seiner Hochzeit mit Elena (Heike Porstein) befindet, die ebenso wenig wie ihr Vater Nonancourt (Dieter Hönig) Verständnis für die Aufgeregtheit ihres Gatten aufbringen kann, deren Grund sie ja nicht kennt.

Was folgt ist eine turbulente Hatz quer durch das Paris des 19. Jahrhunderts, denn das gute Stück gibt’s nicht beim Hutmacher um die Ecke. Schließlich stellt sich heraus, dass das einzige Exemplar in die Hände von Vèzinet (Günter Moderegger), Elenas schwerhörigem Onkel in die Finger geraten ist, der es der Nichte zum Hochzeitsgeschenk mitgebracht hat. Am Schluss geht natürlich alles gut aus, der gehörnte Ehemann bleibt weiterhin uneingeweiht.

Musikalisch fährt Rota hier die Schwüle Puccinis auf, aber nicht etwa als plakatives Plagiat, sondern in Form einer intelligent illustrierenden Opernmusik, die auch allein ihre Wirkung erzielen würde. Das „Kino im Kopf“ stellt sich bei dem Meister der Filmmusik also auch hier ein. Unter der Leitung von Marco Comin gelingt der Staatskapelle Weimar eine süffige, gleichsam beschwingt-heitere Interpretation. Auch auf der Bühne präsentiert das Ensemble ein lustvolles Verwirrspiel auf darstellerisch und sängerisch ausgezeichnetem Niveau. Allen voran die Sopranistin Heike Porstein mit bezaubernd anschmiegsamem Timbre. Ihre strahlenden Höhen und souveränen Koloraturen rufen laut nach größeren Herausforderungen, ihr Spiel ist angenehm frei von standardisierten Theatergesten.

Ihr zur Seite steht mit Uwe Stickert ein engagiert spielender und ausnehmend belastungsfähiger Tenor. Dieter Hönig gibt einen köstlich bärbeißigen Buffo als ewig schlecht gelaunten Schwiegervater in spe aus, auch George Gagnidze mimt den betrogenen Ehemann in effektreich kauziger Manier. Nils Cooper hat ein weitestgehend entschlacktes Regiekonzept zu bieten. Er lässt das Stück für sich sprechen, ohne auch nur irgend einen Deutungsversuch zu unternehmen. Ebenso spartanisch fällt die Bühne von Thorsten Macht aus, der mit Trennelementen und Matratzenlager, einem hellen Mond, einer Laterne und zwei angedeuteten Balkonen auskommt. Als Kontrast zu dem aufgeräumten Bühnenbild, das von Mike Jezirowski behutsam ausgeleuchtet wird, hat Elena Meier-Scourteli fast verschwenderisch historische Kostüme erstellen lassen, die genau in dieser Kombination ihre ganze Wirkung entfalten können.

Veröffentlicht im Neuen Deutschland

Sonntag, 24. September 2006

Uraufführung von Anno Schreiers Oper "Kein Ort. Nirgends" nach Christa Wolf

Der Raum ist die Bühne. Kein Ort bleibt unbespielt. Die Ensemblemitglieder stehen vor ihren Portraits an der Wand, jagen sich quer durch den Raum, nutzen die Ausgänge für Auftritte und Fluchten. Selten bekommt der Zuschauer einen derart unmittelbaren Zugang zum Geschehen, ohne zwanghaft selbst daran beteiligt zu werden. Bei der Uraufführung von „Kein Ort. Nirgends“ von Anno Schreier nach der gleichnamigen Erzählung von Christa Wolf wird wahrlich kein museales Schaustück geboten.

Im Gegenteil: Das Museum teilt sich selbst mit. Denn Regisseurin Anna Malunat hat ganz bewusst den Zeitsprung gewählt. Historisiertes Mobiliar von 1804, dem Handlungszeitpunkt, trifft auf ein Honecker-Portrait um 1979, dem Entstehungsjahr der Erzählung. Heutig sind die beiden Statistinnen, die mal mit dem Staubwedel hantieren, mal aus einer riesigen Einkaufstasche Bücher hervorholen oder sich zwischen den Zuschauern auf kleinen Campinghockern niederlassen und sich das Treiben aus der Nähe anschauen.

In „Kein Ort. Nirgends“ verhandelte die Schriftstellerin Christa Wolf einst ihre eigenen Enttäuschungen am Exempel zweier junger deutscher Literaten kurz nach der Französischen Revolution. Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist sind mit ihrer Verzweiflung radikal umgegangen und haben sich in jungen Jahren selbst getötet.

Ebenso wie die Musik Anno Schreiers wirkt das szenische Experiment erstaunlich schlüssig. Das Libretto von Christian Martin Fuchs reduziert die Literaturvorlage auf wenige kraftvolle Dialoge und einige etwas entrückt wirkende Selbstgespräche. Diese Zurücknahme geht auf. Die fiktive Begegnung zwischen Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist inmitten einer bürgerlich distinguierten Gesellschaft im Haus der Brentanos steht dabei gar nicht mal so sehr im Vordergrund. Es sind die oft floskelhaften Eitelkeiten innerhalb dieser Szene, die ins Auge springen. Die Charaktere sind nicht mehr wandlungsunfähig, haben sich in ihrer Selbstverliebtheit verfahren. Brentano fabuliert über Kunst, Savigny stimmt ihm tumb zu, während seine Frau Gunda mit fast autistischer Vehemenz um die Rettung einiger Überreste ihrer Ehe kämpft.

Anno Schreier wurde in dem Jahr geboren, in dem Christa Wolf die Erzählung geschrieben hat. Der Aachener Komponist hat eine packende Tonsprache gefunden, die sinnliche und abstrakte Aspekte lebhaft in sich vereint. Musikalische Motive sind eindeutig einzelnen Charakteren zuzuschreiben, doch nicht nur in dieser Formalität kann Schreier überzeugen. Keine Wendung wirkt konstruiert, weder barocke Anleihen noch Rossini-Zitate oder atonale Momente sind hier fehl am Platz.

Für das Ensemble ist die Aufgabe enorm dicht. Denn die Protagonisten müssen lückenlose Präsenz zeigen, auch wenn sie nicht direkt am Geschehen beteiligt sind. Diana Schmidt ist als Karoline von Günderrode in eine unwirkliche, geisterhafte Rolle geschlüpft, die bereits im Leben tot wirkt und nur selten noch einmal aufbegehrt. Als Heinrich von Kelist wandelt auch Patrick Pobeschin bereits zwischen den Welten, bis er gemeinsam mit der Leidensgenossin im offenen Sarg aus dem Raum rollt. Daniel Jenz zeichnet klar konturiert den Clemens Brentano, Sonja Gornik ist als dessen Schwester Bettine stimmlich wie szenisch bestens in Form. Florian Rosskopp gibt einen oft belehrend wirkenden Savigny, Arthur Pirvu ist als formalistischer Hofrat Wedekind zu erleben. Sarah Kuffner komplettiert das Ensemble als oftmals bizarre Gunda, gern in rot. Das Orchester unter der Leitung von Thomas Dorsch spielt engagiert und pointiert auf, forciert damit die stets zwischen Übermut und Depression schwankende Stimmung.

Für die Aufführungen in der Brentano-Scheune sind keine Karten mehr erhältlich. Ab dem 14. Oktober wird die Produktion in abgewandelter Inszenierung am Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz übernommen.

In unterschiedlichen Varianten veröffentlicht u.a. im Wiesbadener Kurier/ Tagblatt, Allgemeine Zeitung Mainz, Darmstädter Echo, Neues Deutschland

Dienstag, 19. September 2006

Das Frauenorchester von Auschwitz als Oper in Mönchengladbach

Es ist der Bruch eines Tabus. Das Leiden von Millionen von Menschen, die vom Naziregime gefoltert und ermordet wurden, eignet sich nicht für einen glanzvollen Abend vom Zuschnitt einer Oper. Diese Annahme wollten die Brüder Clemens und Stefan Heucke widerlegen. Der Historiker Clemens hat nach Fania Fénelons Roman „Das Mädchenorchester in Auschwitz“ ein Libretto geschrieben, von Stefan stammt die Musik zu dem leicht veränderten Titel „Das Frauenorchester von Auschwitz“. In Jens Pesel, dem Generalintendanten der Vereinigten Städtischen Bühnen Krefeld Mönchengladbach haben sie einen Regisseur gefunden, dessen wirkungsvolle wie umsichtige Realisierung nun in Mönchengladbach ihre umjubelte Premiere feierte.

Ja, umjubelt! Und sicherlich lässt sich darüber streiten, ob es eine angemessene Würdigung der künstlerischen Leistung angesichts des historisch-gesellschaftlichen Hintergrundes ist, mit Bravos, gellenden Pfiffen, stehenden Ovationen und rhythmischem Klatschen das dreistündig dokumentierte Grauen zu feiern wie eine triumphale „Aida“. In Mönchengladbach hat man sich dazu entschieden, auch die Abendspielleitung sah es nicht geboten, dem entgegen zu wirken.

Zuvor aber war eine gefährliche Gratwanderung alles in allem durchaus gelungen. Auch wenn sich Anita Lasker-Wallfisch, Cellistin im Auschwitz-Orchester im Jahr 2000 bereits ablehnend gegen das Heucke-Projekt geäußert hatte. Nicht aus grundsätzlichen Überlegungen, sondern weil sie die Darstellungen Fania Fénelons in weiten Teilen als diffamierend ablehnte. Vor allem die Rolle der Dirigentin Alma Rosé, die von Fénelon als weitestgehend SS-hörig geschildert wurde, behagte der Musikerin nicht. „Ihr haben wir unser Leben zu verdanken“, betonte sie vor der Premiere noch einmal. In einem intensiven Kontakt mit den Autoren hat sie ihr Veto geltend gemacht, auch wenn das Ergebnis streckenweise noch deutlich die Fénelon’sche Handschrift trägt.

Die Musik zu dem Zweiakter erweist sich als überwiegend konventionell, verharrt als dienstbare Filmmusik mit klangmalerischer Illustration unter Zuhilfenahme perkussionistischer Akzente. Gut funktioniert die Einbindung eines Bühnenorchesters in Original-Besetzung mit Streichern, Akkordeon, Mandolinen, Block- und Querflöten, wozu eigens ambitionierte Amateurmusiker aus der Region angeheuert worden waren. Die Übergänge zwischen den vielfach verstörenden (Dis-)Harmonien des Opernorchesters und den Weisen des Orchesters zum Einzug neuer Gefangener gerieten außerordentlich wirkungsvoll.

Jens Pesel hat sich für starke Bilder entschieden. Im Hintergrund sind Fotos der authentisch überlieferten Orchestermitglieder angebracht, eine Rampe führt eindeutig in die Gaskammer. Über ein kleines Förderband fallen nicht mehr gebrauchte Kleidungsstücke auf die Bühne und türmen sich zu einem riesigen Stapel auf, während ständig neue Deportations-Kolonnen die Rampe hochgetrieben werden. Eindeutig ist auch die Funktion des prominent platzierten Schornsteins auf der Bühne.

Es ist beachtlich mit welchem Personalaufwand ausgerechnet ein kleineres Haus es geschafft hat, die ambitionierte Produktion würdevoll zu realisieren. Orchester und Ensemble leisten hervorragende Arbeit, darunter insbesondere die stimmlich wie szenisch eindrucksvoll agierende Anne Gjevang (Alma Rosé). Auch Kerstin Brix überzeugt als Fania Fénelon restlos. Unter der doppelten Leitung von Graham Jackson und Giulliano Betta – das Orchester ist im hinteren Teil der Bühne untergebracht, das Ensemble erhält seine Einsätze aus dem Orchestergraben – ist eine lückenlose, dichte musikalische Interpretation gelungen. Trotz vieler künstlerischer Vordergründigkeiten der Partitur hat das Werk sicherlich Chancen, auch an anderen Häusern übernommen zu werden und damit eine Entwicklung zu forcieren.

„Das Thema wird immer mehr von der Kunst übernommen werden und nicht alles wird gut sein – doch wir verlieren bald unseren Einfluss“, sagte vorher mit Anita Lasker-Wallfisch eine der letzten Überlebenden sehr treffend. Umso höher die Verantwortung der ihr folgenden Generationen.

Gekürzt veröffentlicht im Neuen Deutschland

Freitag, 15. September 2006

Carl Maria von Webers "Oberon" am Staatstheater Mainz

Mit Spannung war die Eröffnungspremiere in Mainz erwartet worden. Denn die Hoffnungen, die das Publikum auf den „Neuen“ setzten, kanalisierten sich auf genau diesen Moment. Matthias Fontheim, der fließend vom Schauspielhaus Graz zum Intendanten des Mainzer Staatstheaters berufen worden war, hatte bewusst ein spartenübergreifende Inszenierung an den Beginn seiner Arbeit gestellt – ohne freilich selbst Hand anlegen zu müssen.

Als Regisseur hatte er sich Philip Tiedemann geholt, den mehrjährigen Oberspielleiter von Claus Peymann am Berliner Ensemble mit Regie-Erfahrung am Wiener Burgtheater. Der Schauspiel-Regisseur wagte sich nun an Carl Maria von Webers Ober „Oberon“. Es war seine erste Begegnung mit dem Musiktheater, die Integration von Bewegung, Sprache und Musik hatte er zuvor als den „unverstelltesten Ansatz überhaupt“ bezeichnet. Ihm zur Seite stand der weit über die Mainzer Mauern hinaus gepriesene Ballettdirektor Martin Schläpfer. Gert Jonke, Ingeborg-Bachmann-Preisträger von 1977 und seit den 90er Jahren fast im Jahresrhythmus mit Auszeichnungen dekorierter Dramatiker hatte eigens eine deutsche Dialogfassung beigesteuert.

Die äußeren Bedingungen standen also im Zeichen einer viel versprechenden Kombination aus Aufbruch und bewährter Erfahrung. Viele werden sich auch noch an die bis dahin letzte, damals geglückte spartenübergreifende Produktion von Händels „Saul“ erinnert haben, als sie das Große Haus betraten, das damit vor genau fünf Jahren nach der Renovierung von Georges Delnon wieder eröffnet worden war.

Vielleicht war es auch diese enorme Fallhöhe, diese gähnende Kluft zwischen Erwartung und Gebotenem, die ein jetzt ein in weiten Teilen derart enttäuschendes Theatererlebnis bescherte. Zunächst einmal war es kaum gelungen, die verschiedenen Sparten tatsächlich miteinander in Kommunikation treten zu lassen, hier war über zwei Stunden lang bestenfalls ein geduldetes Nebeneinander zu bestaunen.

Der Puck hat sich verfünffacht und ist aus Mitgliedern des Schauspiels und des Jungen Ensembles zu einer Art Griechischem Chor gewachsen, der holprig kommentierend und lenkend durch die Handlung führt. Die Textfassung zwingt sie dabei zu teils verstörend banalem Sprechgesang. Oberon (Martin Erhard) ist nahezu handlungsunfähig, durch den Streit mit Gattin Titania hoch deprimiert und als Schatten seiner selbst ein williges Werkzeug seiner Pucks. Die lassen nun die beiden Sterblichen Hüon (Alexander Spemann) und die Kalifentochter Rezia (Kerrie Sheppard) sich ineinander verlieben und prüfen gleich den Bestand dieser zunächst nur via Traum zustande gekommenen Verbindung. Denn nur, wenn die hält, kommt Titania zu ihrem Elfenkönig zurück.

Die Protagonisten werden auf einem großen Karren nach Bedarf auf die Bühne gerollt, über die im ersten Akt ein riesiger Kopf von Carl Maria von Weber wacht. Später ist es dann ein bizarres Gerüst, auf dem sich Chor und Wassernixen tummeln. Die Ausstattung (Etienne Pluss) hat sich dazu ein paar Albernheiten einfallen lassen, lässt ein Spielzeug-Piratenschiff am Orchestergraben entlang wackeln und pflanzt einen Wegweiser gen Bagdad in die Gegend. Zu wenig für eine überdrehte Persiflage, zu viel für eine seriöse Ausdeutung. Ohnehin fehlt Konsequenz. Das fünfköpfige Ballett der „halben Menschen“ wird etwa für Scharmützel-Szenen oder den Verlockungs-Moment eingesetzt, in der Hüon von den Kalifen-Konkubinen umgarnt wird. Außerdem kommen die Tänzer der Minikaravane auf dem Weg zur Prinzessinnen-Rettung entgegen gewankt. Bewegungen wirken beziehungslos und übertrieben exaltiert. Kurz: es klappert an allen Ecken und Enden.

Musikalisch wird die Produktion von einem ausgesprochen aufmerksamen Orchester unter Leitung von Generalmusikdirektorin Catherine Rückwardt zusammengehalten. Im Ensemble sticht vor allem Kerrie Sheppard mit kraftvollen und dramatisch fesselnden Zügen auf, die sich stimmungsvoll ihrer Rolle annimmt. Martin Erhard bleibt als Oberon eher unauffällig, aber solide, Alexander Spemann ist zumindest an diesem Abend als Hüon stimmlich überfordert. Er stemmt die Höhen und agiert mit einem überbordenden Vibrato, das nicht nötig wäre. Lichtblicke in den kleineren Partien: Patricia Roach stattet die Rezia-Vertraute Fatima mit einem angenehm sinnlichen Timbre aus, Regina Paetzer ist als singender Puck stimmlich überaus beweglich, kann auf eine satte Tiefe zurückgreifen, ohne sie immer ausschöpfen zu müssen. Seine eigentlich dankbare Partie füllt der Chor an diesem Abend etwas zurückhaltend aus.

In verschiedenen Fassungen veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse und im Main-Echo

Gerhild Steinbuchs "Kopftot" in Mainz

Drei neue Gesichter präsentierte das Mainzer Staatstheater nun seinem Publikum. Zwei davon, Julia Kreusch und Friederike Bellstedt waren dem neuen Intendanten Matthias Fontheim aus Graz gefolgt, der 23-jährige Daniel Seniuk ist in dieser Spielzeit vom Schauspiel Hannover nach Mainz gekommen. Gemeinsam mit Thomas Marx nahmen sie sich nun in der kleinen Experimentierbühne des Staatstheaters, dem „Theater im Centrum“ einem Stück von Gerhild Steinbuch an.

„Kopftot“ ist die Geschichte eines Fluchtversuchs. Die junge Ophelia (Julia Kreusch) ist darin hin- und hergerissen zwischen Realität und Fiktion. Ihr Leben ist aus den Fugen geraten. Die Mutter (Friederike Bellstedt) ist gestorben, der Bruder (Daniel Seniuk) nicht auf die Welt gekommen, die Rolle des Vaters (Thomas Marx) bleibt merkwürdig undurchsichtig. Er ist Gefängniswärter der Realität ebenso wie Liebhaber im Traum. Zumindest Teile von ihm. Gleißendes Licht markiert zu Anfang noch die Übergänge zwischen den Welten, doch gegen Ende verschwimmen sie immer ungreifbarer.

Die behutsam verstörende Inszenierung von Julie Pfleiderer setzt auf sanfte, aber wirkungsvolle Bilder. Manchmal konterkariert sie diese Stimmung mit brachialer Lust am Absurden. In ihrer Parallelwelt lässt Ophelia den Bruder zunächst im bizarren Hasenkostüm auftreten, die Mutter entsteigt einer Einkaufstasche und kreist auf Inlinern umher.

All das kann aber über die bedrückende Schizophrenie dieses Stückes nicht hinwegtäuschen. Hier werden klaffende Wunden nie ganz verheilen, das ist von Anfang an klar. „Ich kann doch nicht weg, wenn die Tür verrammelt ist“, bedeutet Ophelia ihrem Bruder. Vertrauen kann sie nicht fassen, auch nicht zu ihm. Wo hätte sie es lernen sollen? Der Vater ahnt es: „Das ist doch nicht normal“, kann ihr aber auch keine Auswege aufzeigen. Sein bürgerliches Bild von Ehemann und Familieidyll findet aber seinen verzerrten Widerhall in Ophelias zweiter Welt, sie modelliert sich einen Liebhaber aus Charakteren zusammen, die sie liebt und fürchtet.

Die oft plakative Naivität von Gerhild Steinbuchs Sprache erinnert streckenweise an Irmgard Keun „Kunstseidenes Mädchen“. Auch hier prallen Wirklichkeit und Realitätsflucht in einem eher unbedarften, früh verletzten Wesen zusammen. Je weiter das Stück voranschreitet, desto verschreckender werden die Bilder. Mutter und Bruder treiben einen bereits zuvor angedeuteten Inzest fort, Ophelia tritt schließlich ganz in das Reich ihrer toten Verwandten über. Das Ensemble nimmt sich dabei seiner Figuren mit großer Hingabe an und zieht den Zuschauer sehr unmittelbar in die Lebenswirklichkeit der Charaktere hinein.

Weitere Vorstellungen: 5., 12., 20., 21. und 29. Oktober um 20 Uhr. Kartentelefon: 06131/2851222

Veröffentlicht im Main-Echo (Aschaffenburg)

Mittwoch, 13. September 2006

Opernprojekt: "Kein Ort. Nirgends" nach Christa Wolf im Rheingau und in Mainz (Vorschau)

Alle kommen sie zurück nach Oestrich-Winkel. Der Rechtsgelehrte Friedrich Carl von Savigny, Clemens Brentano mit Schwester Bettine und vor allem Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode. Die junge Dichterin aus niederem Adel hatte sich in den jüngeren Savigny verliebt, der sie in die Gesellschaft einführte. Goethe und Brentano waren von ihrer Kunst sehr angetan. Eine spätere Liebe brachte sie zwischen den Philologen Friedrich Creutzer und dessen Frau. Als er sich schließlich von der jüngeren Geliebten lossagte, erstach sie sich vor genau 200 Jahren in Winkel.

Der Genius loci brachte Christa Wolf 1979 bereits zu ihrem Essay „Kein Ort. Nirgends“. Hierin skizziert sie eine fiktive Begegnung im Haus der Brentanos zwischen Karoline und Heinrich von Kleist, der fünf Jahre nach ihr Selbstmord begang. Die Erzählung wirkt wie ein einziger Monolog voller innerer Konflikte, Ausweglosigkeit und Unangepasstheit, der ständig die Erzählerperspektive in fließenden Bewegungen wechselt. Eine Vorlage, die der Librettist Christian Martin Fuchs und der Komponist Anno Schreier nun für eine Oper verwendet haben.

„Kein Ort Nirgends“ wird in der Brentano-Scheune am authentischen Ort uraufgeführt. Auf der Bühne stehen junge Sängerinnen und Sänger der internationalen Sommerschule „Singing Summer“, die in diesem Jahr bereits zum dritten Mal an der Mainzer Musikhochschule ausgerichtet wird. Nach den Aufführungen im Rheingau wird die Produktion Mitte Oktober in den Spielplan des Mainzer Staatstheaters übernommen.

„Kleist und Günderrode präsentieren trotz der historischen Folie zwei Künstler, mit den Brechungsfaktoren der Jahre 1804, 1979 und 2006“ erläutert Christian Martin Fuchs sein Interesse an dem Stoff. „Die Originaltreue ist eine mentale: das Schweigen im Lärm, die Einsamkeit in der Betriebsamkeit, das Erblinden im grellen Licht der Öffentlichkeit sind Momente, die heute gelten wie immer“, stellt er einen historisch-sozialen Bezug her.

Der Komponist hingegen spricht von der Herausforderung, „kompositorisch sozusagen in Kleists Kopf hineinzukriechen“ und die „fratzenhafte Bedrohlichkeit“ seiner Umgebung wiederzugeben. „Dabei erlaube ich mir durchaus, kompositorisch auf die eine oder andere Art über die Stränge zu schlagen: denn im Sinne der Unterhaltung ist auf dem Theater jedes Mittel recht“, führt er aus. Der 1979 geborene Komponist hat bei Manfred Trojahn und Hans-Jürgen von Bose studiert und bereits früh Kompositionswettbewerbe gewonnen.

Dass für einen inhaltlich wie historisch derart bedeutungsschweren Stoff ausgerechnet ein junges Ensemble verpflichtet wurde, wirkt nur auf den ersten Blick befremdlich. Denn die Protagonisten der Handlung sind zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in ihren Zwanzigern und stehen eigentlich am Anfang viel versprechender Karrieren. Karoline von Günderrode brachte mit 24 unter dem Pseudonym „Tian“ ihre „Gedichte und Phantasien“ heraus, Kleist vollendete seinen „Zerbrochenen Krug“ im Alter von 29 Jahren.


Die Premiere findet am 22. September um 20 Uhr in Anwesenheit von Christa Wolf in der Brentano-Scheune (Hauptstraße 143 a) statt. Weitere Aufführungen am 24. September, 11 Uhr und am 26. September, 20 Uhr. Ab dem 14. Oktober wird die Produktion in den Spielplan des Staatstheaters Mainz übernommen. Der Eintritt für die Veranstaltungen in Oestrich-Winkel ist frei, jedoch nur nach Anmeldung möglich. Telefon: 06131-2851222

Am 21. September kommt Christa Wolf um 20 Uhr zu einer Lesung und einem Podiumsgespräch mit der Schauspielerin Anke Sevenich und dem SWR-Moderator Martin Lüdke in die Brentano-Scheune. Die Veranstaltung beginnt um 20 Uhr. Karten sind im Vorverkauf (01805-743464) für acht, an der Abendkasse für elf Euro erhältlich.

Veröffentlicht im Wiesbadener Kurier / Wiesbadener Tagblatt

Donnerstag, 31. August 2006

Interview mit der Geigerin Julia Fischer

Die 23-jährige Geigerin Julia Fischer kann sich derzeit über mangelnde Beschäftigung nicht beklagen. Die Alte Oper widmet der Münchnerin ab heute ein Interpretenportrait, an der Frankfurter Musikhochschule wird sie mit Beginn des Wintersemesters als Professorin eine Violinklasse leiten. Wir sprachen mit ihr über künstlerische und pädagogische Herausforderungen.


Sie arbeiten seit Jahren mit den bedeutendsten Größen der Musikwelt zusammen. Wie gehen Sie mit diesen Kapazitäten in der Vorbereitung auf Ihre Konzerte um?
Musikalisch ist es eigentlich egal, welches Alter das Gegenüber hat. Natürlich steckt da eine andere Erfahrung dahinter, aber man diskutiert oft auf die gleiche Art und Weise. Man hat sich etwas über das Stück überlegt, hat vielleicht verschiedene Meinung, tauscht sich aus und diskutiert. Dabei überzeugt eben der eine den anderen. In Bezug auf berufliche Entscheidungen habe ich von erfahreneren Kollegen sehr viel gelernt.


Von welchen?
Eine wichtige Person in Bezug auf Repertoire und Aufnahmen ist sicherlich Neville Marriner , dann Lorin Mazel und auch Yakov Kreizberg. Von ihnen habe ich viel darüber gelernt, welche Konzerte man annimmt, welches Repertoire einstudiert werden soll, wie viele Konzerte man überhaupt annimmt…


Und was haben die Herren falsch gemacht, dass Sie jetzt dieses Mammut-Programm in der Alten Oper auf sich nehmen?
(lacht) Also die Idee für das Projekt entstand im Januar 2004, als ich mit der Academy of St. Martin in the Fields und Neville Marriner in Frankfurt gespielt habe. Anschließend waren wir gemeinsam mit dem Intendanten der Alten Oper, Michael Hocks essen und der meinte, es sei doch schade, dass wir nur ein Konzert spielen und dann wieder gehen. Da war ich wieder etwas vorlaut und ich sagte, er könne uns ja mal für mehrere Konzerte einladen.


Nun stehen fünf Konzerte kurz hintereinander an. Ist da viel Neues für Sie dabei und wie haben Sie das Programm zusammen gestellt?
Absolut neu ist es für mich, ein Orchester zu leiten. Auch einige neue Werke sind dabei. Die Elgar- und die Tschaikowsky-Serenade kannte ich vor einem Jahr noch nicht. Schönbergs „Verklärte Nacht“ habe ich schon gespielt, allerdings in der Sextett-Version und in der zweiten Geige. Die „Vier Jahreszeiten“ und die Tschaikowsky-Serenade habe ich im Repertoire. Ich könnte das alles mit einem anderen Orchester als der Academy nicht machen, weil wir uns so gut kenne. Da habe ich richtige Freunde drin, es ist keine anonyme Bekanntschaft. Bei dem Rezital-Programm habe ich mit Yean-Ives Thibaudet telefoniert und wir haben diskutiert, was wir machen wollen. Das war sehr unkompliziert. Daniel Müller-Schott (Cello) und ich haben ein relativ großes Trio-Programm, so dass wir die Wahl immer dem Pianisten überlassen.


Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten, die der musikalische Nachwuchs in Deutschland hat?
Ich bin der Meinung, dass es in Deutschland fantastischen Nachwuchs gibt, was nicht heißt, dass man ihn nicht mehr fördern muss. Es gibt nie genug Förderung. Wir stehen aber gar nicht so schlecht da. Dennoch müsste man die Musikschulen finanziell viel mehr unterstützen. Es gibt da große Unterschiede. Es gibt phänomenale und katastrophale. Letztendlich hat aber jedes Kind, das in Deutschland Musiker werden möchte, die Chance dazu, wenn es die Eltern unterstützen.


Fühlen Sie sich selbst als ein Vorbild für andere junge Musiker?
Ich schaue mich nicht um und schaue, ob ich ein Vorbild bin oder nicht. Natürlich gibt es Menschen, die mich nach meiner Meinung fragen, die wissen wollen, zu welchem Lehrer sie gehen sollen und was wichtig ist. Ich beantworte das dann auch und manche folgen meinen Ratschlägen auch. Vielleicht bin ich es für manche, aber ich lebe nicht bewusst so, dass ich als Vorbild dienen kann.


Das wird sich ab September ein wenig ändern müssen. Sie werden als Professorin an der Frankfurter Musikhochschule arbeiten. Wissen Sie, was da auf Sie zukommt?
In gewisser Weise schon. Aber natürlich werde ich Überraschungen erleben. Das erwarte ich und darauf freue ich mich, wie ich mich immer schon auf Herausforderungen gefreut habe. Das wichtigste für mich ist, dass Studenten auf mich zukommen, die etwas lernen möchten und mich als Lehrer respektiert. Ich habe gerne Studenten mit einer eigenen Meinung, aber sie dürfen nicht aus Grundsatz oppositionell sein. Ich führe gerne Diskussionen und tausche mich auch gerne mit anderen Musikern aus. Aber es kann nur funktionieren, wenn das Ziel das gleiche ist: die bestmögliche Interpretation.


Wie werden Sie mit Problemen umgehen, die Sie aufgrund ihrer Begabung und damit verbundenen Karriere vielleicht selbst nie hatten?
Kein Mensch hat in seiner Entwicklung alle Probleme gehabt. Die Probleme, die man in einer Musikausbildung bekommt, hängen nie nur davon ab, wie schnell die Karriere verläuft. Sie hängen vom Charakter ab, von der Frage, wie jemand intellektuell, motorisch, emotional begab ist und ob er eine gute musikalische Intuition besitzt. Die Qualität eines guten Lehrers ist es, sich in die Situation eines anderen Menschen versetzen und dann eine Lösung finden zu können. Es wäre zu einfach, wenn man jedes Problem schon vorher gelöst hätte, das kann ja nicht sein.


Haben Sie sich vorher mit eigenen Lehrern besprochen, wie Sie nun an die neue Aufgabe herangehen können?
Meine Mutter ist ja Klavierpädagogin. Das Wissen, das sie hat, hat sie versucht, an mich weiter zu geben. Meine eigene Lehrerin, Ana Chumachenco wird mir zur Seite stehen. Gerade, was Repertoire-Fragen anbelangt. Das ist eine sehr wichtige Frage in der Ausbildung. Ich habe ja auch nette Kollegen in Frankfurt, die werde ich sicherlich auch fragen. Ich frage prinzipiell gerne andere Musiker um ihre Meinung, daher werde ich das auch machen, wenn es um pädagogische Aspekte geht.


Werden Sie den Konzertbetrieb zugunsten der Lehrtätigkeit einschränken müssen?
Nein. Ich versuche ja ohnehin, nie über 100 Konzerte im Jahr hinaus zu kommen, was sowieso schon zu viel ist. Meine Traumzahl sind 80 Konzerte im Jahr. Die werde ich jetzt auch verteidigen müssen.


Ziehen Sie nach Frankfurt?
Ich werde jetzt erst einmal in München bleiben.



Auszüge veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse und der Wetzlarer Neuen Zeitung

Montag, 28. August 2006

Justus Frantz konzertiert mit Kindern in Mainz

Wenn Justus Frantz den Taktstock hebt, sind es in der Regel versierte Profimusiker, die seinem Schlag folgen. Im Mainzer Dom war das jetzt einmal anders. Zwischen den Instrumentalisten der „Philharmonie der Nationen“ hatten sich musikbegabte Kinder im Alter zwischen acht und 16 Jahren hinter die Pulte gesetzt. Möglich gemacht wurde diese Initiative vom Mainzer Schott-Glas-Konzern, der den Dirigenten eingeladen hatte, mit den Nachwuchstalenten eine Woche gemeinsam zu proben.

Kameras, Mikrofone und Leuchten sind auf sie gerichtet, einige Kinder blinzeln nervös und versuchen, in dem riesigen Mittelschiff der Kathedrale ein bekanntes Gesicht zu erspähen. Doch die meisten haben sich schnell an die Aufmerksamkeit gewöhnt, die ihnen an diesem Tag gilt. Udo Ungeheuer, der Vorsitzende des Schott-Vorstandes betont, dass sein Betrieb mit diesem Projekt junge Menschen für klassische Musik interessieren möchte. Bei den jungen Musikern musste er wohl kaum Überzeugungsarbeit leisten, immerhin haben alle bereits mindestens zwei Jahre Instrumentalunterricht hinter sich– zumindest ist das eine der Voraussetzungen gewesen.

Doch bestimmt wird sich der eine oder andere durch diese Situation besonders motiviert fühlen und weitermachen. Schließlich ist so ein Konzert für jeden Musikschüler etwas ganz besonderes. Der Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann, der die Schirmherrschaft übernommen hat, spricht vor dem Konzert über Wertevermittlung durch die Musik und betont den im doppelten Sinne spielerischen Aspekt.

Doch dann wird es ernst für die Musiker. Zuerst steht Mozarts Ouvertüre zur Zauberflöte auf dem Programm. Wenn man die Augen schließt, merkt man kaum, dass es sich um ein Gemeinschaftsprodukt von Profis und Nachwuchs handelt. In der Kindersinfonie von Franz Joseph Haydn ist besonders viel Enthusiasmus zu spüren. Dann geht es richtig rund, mit Rasseln, Perkussionsinstrumenten und Blockflöten. Beide Stücke sind gezielt ausgewählt worden, sie überfordern nicht, setzen aber doch ein gehöriges Maß an Musikalität und soliden technischen Fähigkeiten voraus. Und inmitten der erfahrenen Musiker wächst hier sicherlich so manches Kind an Geige, Querflöte oder Kontrabass über seine eigenen Grenzen hinaus. Eine Erfahrung, die prägt.

Weniger geschickt ist dann die Programmänderung im zweiten Teil gewählt. Statt der populären „Jupiter-Sinfonie“ von Wolfgang Amadeus Mozart, die auf dem Programmzettel steht, gibt es die fast einstündige sechste Sinfonie in A-Dur von Anton Bruckner zu hören. Selbstverständlich ausschließlich von der „Philharmonie der Nationen“ gespielt. Für die Zuhörer, die sich auf leichtere Kost eingestellt haben, eine Herausforderung. Unruhe, Abwanderungen und unbeirrbares Klatschen zwischen den Sätzen sind die Folge.

Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz

Sonntag, 27. August 2006

Leipziger Kammerorchester und "Immortal-Bach-Ensemble" unter Leitung von Morten Schuldt-Jensen beim Rheingau Musik Festival

Schon die Orchesteraufstellung ist etwas gewöhnungsbedürftig. Links die Streicher, rechts die Bläser, ein Mischen der Klänge ist damit kaum möglich. Vielleicht nicht erwünscht? Auf jeden Fall ungewohnt. Das Leipziger Kammerorchester unter Leitung von Morten Schuldt-Jensen bricht auf diese Weise in Mozarts berühmter Sinfonie-Nr. 40 in g-Moll (KV 550) schon einmal rein formal mit den Hörgewohnheiten. Warum auch nicht, schließlich gibt es genug Erwartbares im Konzertbetrieb.

Wenn es denn nur aufgehen würde. Doch schon im Kopfsatz kommt das Orchester nicht richtig auf einen Nenner. Müßig zu spekulieren, ob das auch etwas mit der äußeren Unruhe zu tun hat. Das Ensemble poltert ungewohnt heftig voran, spart nicht an forschen Phrasierungen und agiert äußerst selbstbewusst und mutig. Außerdem hat das Leipziger Kammerorchester einen ausgesprochen transparenten Klang zu bieten. Alles gute Voraussetzungen für eine spannende Interpretation. Doch eine glaubhaft vermittelte Linie ergibt das allein noch nicht.

Ein Blick auf den Dirigenten bringt Aufklärung. Schuldt-Jensen dirigiert meist in gebückter Haltung, schaufelt aufwändig im Keller herum und kommt mit seinen Angaben selten einmal über Brusthöhe hinaus. Ihm scheint sein Chor zu fehlen, der erst später kommt. Nahezu unsichtbare Einsätze führen im Finalsatz prompt zu einem irritiert tröpfelnden Einstieg der Instrumentalisten. Leider kein Einzelfall, sondern ein Höhepunkt dieser eher intuitiven Leitung. Ein Glück, dass die Konzertmeisterstelle hier souverän ausgefüllt wird.

Fragezeichen hinterlässt auch das kurze „Stabat Mater“ (D 175) von Franz Schubert. Schuldt-Jensens farb- und konturenlose Leitung wirkt schulmeisterhaft, vermittelt kaum Spannung und rechnet das Werk klein. Es gelingt ihm nur unzureichend, seinen kultiviert singenden Chor, das aus dem Gewandhaus-Kammerchor hervorgegangene „Immortal-Bach-Ensemble“, zu der durchaus möglichen Vermittlungsleistung zu motivieren. Kein Wunder, dass das Publikum nach dem letzten Ton nicht weiß, ob es applaudieren soll und es dann eben lässt.

Etwas klarer strukturiert erklingt Schuberts Es-Dur-Messe, die dank einem pointierten Chorklang immer wieder aufs Neue fesselt. Schade nur, dass das Orchester hier oft etwas zu dominant aufspielt. Dennoch können fast schwebende Momente im Credo feingliedrig transportiert und die Wendigkeit der einzelnen Stimmgruppen im Agnus Dei demonstriert werden. Choreigene Solisten mit unaufdringlicher natürlicher Färbung runden eine saubere Leistung ab.

Veröffentlicht im Wiesbadener Kurier / Wiesbadener Tagblatt

Mittwoch, 23. August 2006

Ewa Kupiec beim Rheingau Musik Festival

Eine Künstlerin wie Ewa Kupiec kann sich so etwas leisten. Beim Rheingau Musik Festival bot die renommierte Pianistin nun einen Klavierabend an, der kaum auf den Geschmack der Massen ausgerichtet war. Und so blieben die wirklichen Liebhaber ihrer Kunst auf Schloss Johannisberg für die Festival-Verhältnisse auch überschaubar. Intendant Michael Hermann verwies allerdings ausdrücklich auf die Besonderheit des Abends und auf die exklusiv für diesen Abend zusammengestellte Auswahl – was mit Blick auf die Mosel-Festwochen allerdings nicht ganz haltbar ist.

Unter Umgehung jeder konzertdramaturgischer Konvention startete die polnische Künstlerin ihren Abend mit Neuer Musik im weiten und engen Sinn. Zu seinen „Metopen“ op. 29 wurde Karol Szymanowski wohl 1915 von den gleichnamigen reliefgeschmückten Platten an den griechischen Tempeln inspiriert, die er zuvor auf Sizilien besichtigt hatte. Die kurzen, effektvollen „poèmes“, wie der Komponist sie nennt, ließ Ewa Kupiec mit einer ungeahnten Präzision und stimmungsvollem Glanz Revue passieren.

Ohnehin kann sie mit einer beneidenswerten Genauigkeit aufwarten, die nie starr oder einengend wirkt. Im Gegenteil: aus dieser Eigenschaft scheint sie kreative Kraft zu schöpfen. Dabei nutzt sie ihre Souveränität als eine Art ruhiges Gewissen ob einer musikalisch hoch angelegten Basis, hinter die sie nie zurückfallen wird. Dieses Bewusstsein macht sie frei und auch mutig.

Damit ist sie für das „Labyrinth“, das ihr Randall Meyers 1998 geschrieben hat, ausreichend gewappnet. Anders als bei John Cage, der seine Klavier oft starr präparieren lässt, so dass der ursprüngliche Klang dauerhaft ausgeschlossen bleibt, hat Meyers keine permanenten Einbauten vorgesehen, lässt die Künstlerin aber dennoch oft genug im Innern des Instruments hantieren. Ein tiefes, beängstigendes Klopfen steht da am Anfang, wird mittels Pedal mit viel Hall versehen. Das wirkt fast synthetisch und steht damit im feinen Kontrast zu den resignierenden tonalen kleinen Läufen. Die wirken rau und wiederholen sich immer wieder, bis schließlich das letzte Klopfen in der Stille verhallt.

Im zweiten Teil sind die Klänge dann gewohnter. Franz List hat zwischen 1839 und 1846 drei Sonette des italienischen Dichters Francesco Petrarca in Klaviermusik übersetzt. Ähnlich wie die Szymanowski-Gedichte nur eben stilistisch auf ganz andere Weise führen die kurzen Stücke in mal träumerisch verzagte, mal verzweifelt drängende Situationen. Schließlich konnte Ewa Kupiec in „Romeo und Julia“ von Sergej Prokofjew gleichzeitig unbeirrbare Virtuosin und faszinierende Erzählerin sein. Kluge Zurückhaltung bei Pater Lorenzo, aufgeregte Zerrissenheit bei Mercutio und ein gewaltiges Aufbegehren beim Zusammentreffen von Montagues und Capulets verschmolzen bei dieser Pianistin zu einer dichten musikalischen Schilderung.

Veröffentlicht im Wiesbadener Kurier / Wiesbadener Tagblatt

Montag, 21. August 2006

Singer Pur mit Vokalmusik des 16. Jahrhunderts

Vokalmusik aus dem 16. Jahrhundert zu singen ist so etwas wie Archäologie zu betreiben. Aus dieser Zeit gibt es zwar mittlerweile ein Fülle an Material, doch den Interpreten bleibt ein großer Ermessens-Spielraum, wie sie mit der vorhandenen Literatur umgehen. Außerdem finden sich immer wieder neue Spuren. Das Sextett „Singer Pur“ hat sich nun für die Gegenüberstellung zweier Komponisten mit ähnlichen Lebensdaten entschieden. In St. Peter gestalteten sie damit beim Mainzer Musiksommer ein durchgängig spannendes Konzert.

Beide Komponisten wurden um 1553 geboren und haben ihr jeweiliges Umfeld musikalisch geprägt. Durch seine Konvertierung zum Protestantismus hatte Leonhard Lechner die Gunst seines Dienstherren, einem Hohenzollern-Grafen verwirkt und fand schließlich eine Anstellung an der Württembergischen Hofkapelle Stuttgart, in der er bis zum Kapellmeister vorrückte.

Bereits in dem ihm gewidmeten Programmteil skizzierten „Singer Pur“ die erstaunliche Vielfalt früher vokaler Polyphonie. Dank ihrer entspannten Klangformung gelang es den fünf Herren und der Sopranistin, eine ungewohnte Musik überaus ansprechend zu vermitteln. Sicher abgefederte Dynamik prägte den vierstimmigen Liedsatz „Gott bhüte Dich“, hier wurde Volumen ohne jeden Druck erzeugt. Das dicht verwobene Klangnetz des Gloria aus der Messe „Nun fu mai cervo“ schlüsselte das Ensemble beherzt und respektvoll auf. Fließende Motivübergaben durch alle fünf Stimmen hindurch hielten die Interpretation stets lebendig.

Damit stellten sie auch einen Bezug zum zweiten Komponisten des Abends, dem Italiener Luca Marenzio, her. Die Messe bezieht sich nämlich auf dessen gleichnamiges Madrigal, das an diesem Abend nicht fehlen durfte. „Singer Pur“ erzählten das üppig dimensionierte Werk packend und vermittelten mit ihrer sensiblen Deutung plastisch auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit irdischen Lebens.

Mit drei kurzen Madrigalen zu sechs Stimmen rundeten „Singer Pur“ ihr programmatisch klug zusammengestelltes und musikalisch pointiert transportiertes Konzert ab. Als lang gezogene Klage entwickelte sich das „Tutte sue squadre“ (All seine Gruppen von Nöten), intensiv kostete das Ensemble die fast süffigen Momente im „Vaghi capelli aurai“ (Dunkles, güldenes Haar) aus, einen einzigen schwebenden Klang projizierte „Singer Pur“ abschließend im „E sio mi doglio“ (Und wenn ich Schmerz empfinde).

Veröffentlicht in der Allgemeinen Zeitung Mainz