Freitag, 19. Mai 2006

"Andrea Chénier" von Umberto Giordano mit der Nationaloper Warschau bei den Maifestspielen in Wiesbaden

„Andrea Chénier“ gehört nicht zu den Spielplan-Hits. Weder in Deutschland noch anderswo. In den vergangen Jahren tauchte sie jedoch wieder öfter auf, etwa in Wien oder in Saarbrücken. In der kommenden Spielzeit wird auch wieder eine Inszenierung des Darmstädter Intendanten John Dew in der Deutschen Oper Berlin gezeigt. Wer eine Referenzaufnahme sucht, findet zunächst aber nur zwei Produktionen. Eine immerhin aus dem Jahr 1977 mit Plácido Domingo in der Titelrolle und dem National Philharmonic Orchestra unter der Leitung von James Levine. Umso dankenswerter, dieses süffige Verismo-Werk nun bei den Internationalen Maifestspielen als Gastspiel der Polnischen Nationaloper Warschau hören zu können.

Sein Schöpfer, Umbert Giordano ist auch Zeit seines Lebens als Komponist relativ glücklos geblieben. Einige seiner acht Opern erlebten zwar eine umjubelte Uraufführung, fanden aber kaum auf die Spielpläne und gerieten daher rasch in Vergessenheit. So erging es auch dem Vierakter „Andrea Chéier“, der genau vor 110 Jahren, dem Gründungsjahr der Maifestspiele, uraufgeführt wurde. Allenfalls die Arie der Maddalena im dritten Akt taucht ab und an noch bei den Hörerwünschen der Klassik-Radios auf. Giordano hörte 19 Jahre vor seinem Tod auf zu komponieren.

Die Handlung von „Andrea Chénier“ ist rasch skizziert. Inmitten der Französischen Revolution sagt sich der Page Gérard (Mikolaj Zalasinski) von seiner Herrschaft los und wird zu einem der Revolutions-Anführer. Später nutzt er seine Macht, um sich die ehemalige Grafentochter Maddalena (Tatiana Borodina) gefügig zu machen. Die hat sich in den Dichter Andrea Chénier (Viktor Lutsiuk) verliebt, der sich enttäuscht von der Revolution abgewandt hat und nun als Verräter gesucht wird. Erst nachdem Gérard die Anklage wegen Hochverrats unterschrieben hat, wird er sich seiner Feigheit bewusst und versucht, den Angeklagten vor Gericht frei zu bekommen. Der Versuch scheitert und der Dichter wird zum Tod verurteilt, Maddalena schleust sich in seine Zelle ein und wird gemeinsam mit ihm hingerichtet.

Schon das Libretto von Luigi Illica verspricht große Gefühle: Liebe, Stolz, Edelmut und fehlgeleiteten Rachedurst. All dem setzt Umberto Giordano mit seinem voll erblühten Verismo-Gestus, der so oft an Puccini erinnert, noch eins drauf. Mariusz Trelinski hat für seine Inszenierung, die vergangenen Oktober in Warschau Premiere hatte, eine klare Formensprache gefunden. Riesige Symbole ziehen sich durch die vier Akte. Dazu gehören eine riesig Guillotine, unter der sich Maddalena und Chénier in den Revolutionswirren wieder begegnen. Das Tribunal nimmt mondäne Ausmaße an und vermittelt durch den Einsatz des großen Chores über drei Stockwerke hinweg eine bedrückende Atmosphäre (Bühnenbild: Boris Kudlicka).

Die moralische Deformierung der Revolution zeig Trelinski gleichermaßen plakativ wie die Überhöhung klassischer Werte zu Kampfbegriffen. Aber auch der Adelsstand, der seine letzte Stunde förmlich riecht, ist nur noch ein Schatten seiner selbst, wird in einem letzten bizarren Auftritt als Schar von verwesenden Untoten karikiert (Kostüme: Magdalena Teslawska und Pawel Grabarczyk).

Viktor Lutsiuk ist als kraftvoller Tenor eine ideale Besetzung und kann auch spielerisch überzeugen, Mikolaj Zalasinski legt seine Partie weniger stürmisch an, was ihr gut zupass kommt. Eine Überraschung stellt die Mezzosopranistin Tatiana Borodina dar. Wirkt sie zunächst etwas spröde, entwickelt sie immer mehr an farbenprächtiger Klanggestaltung und kann spätestens in der bereits genannten Arie mit präzise geführter Stimme vollständig überzeugen. Dem Orchester unter Leitung von Grzegorz Nowak gelingt eine atmosphärisch lebendige Kulisse.


Veröffentlicht im Main-Echo und in der Frankfurter Neuen Presse (vom Autor gekürzt und verändert)

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