Sonntag, 20. April 2008

Romeo und Julia als interaktives Kunsterlebnis

Eigentlich ist die Geschichte ja hinlänglich bekannt. Mit „Romeo und Julia“ hat sich William Shakespeare auch weit über den Kreis der Literaturinteressierten hinaus unsterblich gemacht. Die unglücklich Liebenden gelten als das Paradebeispiel einer Liebe bis in den Tod. Dass es gelingt, in der freien Theaterszene, die in Wiesbaden sicherlich nicht immer im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht, eben dieses Repertoire-Stück so spannend und neu zu erzählen, dass auch die dritte Wiederaufnahme zu vollem Haus führt, verdankt die Stadt dem Einfallsreichtum und Durchhaltevermögen der Truppe im „Künstlerhaus 43“ um den Schauspieler und Regisseur Wolfang Vielsack.

Die 14 Schauspieler und Musiker hauchen der Geschichte Leben ein, indem sie sie in das Jahr 1907 und mitten in die Wiesbadener Innenstadt verlegen. Hier, in einem verwinkelten Stadthaus, treffen sich die bis dato verfeindeten Clans der reichen, kaisertreuen Capulets und der proletarischen, klassenbewussten Familie Montague. Vielsack selbst steht in Frack und Zylinder etikettebewusst den Capulets vor, den Heinrich Montague gibt Oliver Klaukien in ruppiger Ernst-Thälmann-Pose. Dass die Versöhnung schief gehen wird, ahnt man schon nach einem ersten Gerangel zwischen dem schnöseligen Tybalt (Axel Ghane-Basiri) und dem temperamentvollen Mercutio (Eduardo Laino). Rasch sind die Sympathien des Publikums geklärt. Doch qua Eintrittskarte haben sie sich vorher entschieden, auf wessen Seite sie stehen.

Lorenz Capulet zieht mit seinem Anhang, der gleichermaßen aus Gästen wie Schauspielern besteht, in die „Bell Etage“, um dort bei Celloklängen (Jan-Filip Tuba) und einem erlesenen Drei-Gänge-Menü der Hofköche auf die Verlobung seiner Tochter Julia (Ariane Klüpfel) hinzufiebern. Unten indessen feiert das „einfache Volk“ bei zünftiger Jause und schmissigen Klängen des Duo Terz, das mit Klarinette und Akkordeon zum Tanz aufspielt. Ab diesem Zeitpunkt können die Gäste das Stück zum ersten Mal aus einer eng fokussierten Perspektive betrachten und sind nicht, wie der allwissende Theaterzuschauer ansonsten über sämtliche Vorgänge informiert. Warum weint Julia die ganze Zeit so schrecklich bei Tisch? Weshalb scheint sie plötzlich auf die Vermählung mit einem völlig Fremden (ebenfalls ein Gast) einzugehen? Diese Fragen und vielen mehr stellen sich während der Mahlzeit. Umsitzende Gäste machen sich dran, das unglückliche Geschöpf zu trösten, einem Anderen geht der Cellist auf dieNerven und beraubt ihn deshalb seines Geigenbogens.

Zwischendrin aber werden alle Gäste jeweils kurz Zeuge des gleichen Geschehens, dss sich im Hof abspielt. An den Fenstern schauen sie dem heimlichen Liebespaar beim vermeintlichen Abschied auf Zeit zu, bekommen die Tragödie vom Tod des Tybalds und Mercutios mit, um schließlich die anrührende Sterbeszene der Liebenden zu verfolgen. In so einem Moment ist die Spannung in der kühlen Frühlingsluft zum Greifen. Der herzliche Applaus am Ende gilt einer ausgezeichneten Kombination aus Literaturtheater, Improvisation und interaktiver Kunst, die man sich packender kaum vorstellen kann.


Veröffentlicht im Wiesbadener Kurier / Wiesbadener Tagblatt

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