Montag, 23. Oktober 2006

Tosca leidet unter Pinochet - Puccinis "Tosca" im Staatstheater Darmstadt

Bei der Operninszenierung an sich gibt es eine Menge Dinge, die gründlich schief gehen können. Am gefährlichsten ist es, ein Stück aus seinem historischen Kontext heraus zu brechen und in eine andere, markante und dem Publikum noch recht präsente Zeit zu verlegen. Unabhängig einmal vom Textverständnis sind damit eine Reihe dramaturgischer Stolperfallen vorprogrammiert. Eine besondere Herausforderung stellt es dann noch dar, dieses Wagnis bei einem Publikumsliebling einzugehen. Philipp Kochheim hat das nun mit Giacomo Puccinis „Tosca“ in Darmstadt getan und ist beim Premierenpublikum gnadenlos durchgefallen. Entrüstung schlug dem Ensemble schon nach dem ersten Akt entgegen.

Völlig zu unrecht. Denn Kochheim ist mit Mut und Konsequenz ein ausgezeichneter Transport des Stoffes in die Zeit der Militärdiktatur von General Pinochet gelungen. Die Konfliktlinien ähneln sich, die Methoden auch. Bei Puccini lehnen sich Anhänger Napoleons gegen die Restauratoren der Monarchie auf, Kochheim skizziert den Freiheitskampf gegen die Militärdiktatur. Alles beginnt bei ihm am schicksalhaften 11. September 1973, als Pinochet gegen die demokratisch gewählte Regierung Salvador Allendes putschte. Der gestürzte Konsul Angelotti ist nun ein widerständischer Gewerkschafter, Cavaradossi kein Kirchenmaler, sondern ein Fotograf.

Im Mittelpunkt steht in dieser Inszenierung die Brutalität eines Regimes, das sich in seiner besonders gefährlichen Mischung aus persönlicher Perversion und Eitelkeit sowie politischem Fanatismus in der Gestalt des Scarpia widerspiegelt. In dem Bariton Tito You hat Kochheim einen sängerisch wie schauspielerisch überaus präsenten Darsteller gefunden, der die Rolle bis zur bizarren Dämonie zuspitzt. Unbekümmert lässt er Anja Vinckens eindringlich formulierte Tosca-Arie „Vissi d’arte, vissi d’amore“ an sich abprallen, ihr vorgebliches Selbstopfer nimmt er freilich an.

Kochheim und Uta Fink, die für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich ist, lassen dem Zuschauer nur wenig Zeit zum Durchatmen. Sie arbeiten mit deutlichen Bildern. Cavaradossi (ausdauernd und wendig: Zurab Zurabishvili) werden die Augen ausgestochen, die Erschießungs-Szene findet im berüchtigten Nationalstadion in Santiago statt – dort, wo seinerzeit Tausende von Menschen unter brutalen Bedingungen zusammengetrieben und ermordet wurden. Auch in diesem Bühnenbild erkennt man deutlich, dass hier bereits gestorben wurde, Toscas finaler Selbstmord am elektrisch geladenen Zaun ist da nur konsequent. Und der Vorhang trieft schon nach dem ersten Akt vor Blut. Unter der Leitung stellvertretenden Generalmusikdirektors Martin Lukas Meister illustriert das Orchester das Bühnengeschehen mit ausgesuchter Schärfe und Präzision.

Kochheims Inszenierung ist direkt und verstörend. Hier kommt niemand heraus, ohne sich über die Wiederkehr historischer Ereignisse Gedanken gemacht zu haben. Die Distanz von 200 Jahren ist hier kein Vorwand mehr, um sich an üppigen Melodien zu erfreuen und damit den Inhalt aus den Augen zu verlieren. Dass das nicht jedem gefallen kann, ist klar.

In Abwandlungen veröffentlicht u.a. in der Frankfurter Neuen Presse und im Main-Echo

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