Dienstag, 5. Dezember 2006

Orff-Doppelabend mit "Oedipus der Tyrann" und "Antigonae"

Ist das nicht eigentlich eine Zumutung? Zwei Mal über zwei Stunden lang servierte John Dew seinem Publikum eine Gemengelage aus sängerischer Monotonie und ostinaten Rhythmen. Der Intendant des Darmstädter Staatstheaters hatte, auch um seinem Anspruch nach einem „eigenen Akzent“ gerecht zu werden, zwei Orff-Opern ausgegraben, die man auf den Spielplänen ansonsten vergeblich sucht. Zu Recht, könnte man nach diesen beiden Abenden einwenden, doch die spontane Reaktion wäre dann doch etwas oberflächlich.

Denn was Dew in Darmstadt getan hat, ist eine nicht zu unterschätzende Erinnerungsarbeit. Doch es ging dabei nur nebenbei darum, zwei in Vergessenheit geratene Werke wieder einmal aus der Versenkung zu heben. Orff hat in seinen beiden Kompositionen den seltenen Versuch unternommen, Text und Inhalt seiner Vorlagen nicht durch Musik zu kommentieren, sondern bestenfalls zu stützen. Heraus gekommen ist Sprechtheater mit Musik. Über weite Strecken verlangt er dabei seinen Interpreten sängerische Höchstleistungen an der Grenze des menschlich Leistbaren ab. Doch auch das ist Teil eines nachvollziehbaren Konzepts, geht es doch in den Sophokles-Tragödien „Oedipus der Tyrann“ und „Antigonae“ ganz ungeschönt um die tiefsten Abgründe menschlichen Zusammenlebens. Und die sind nun einmal nicht mit Wohlklang und Melodienseeligkeit realistisch zu übersetzen. Realismus nämlich steht im Vordergrund. Orff hat sich für eine unmittelbare Übertragung des bloßgelegten Konflikts entschieden und John Dew ist diesem Ansinnen in seinem kargen Inszenierungen gefolgt.

Der 1959 uraufgeführte „Oedipus“ findet in Darmstadt komplett vor der Kulisse einer gigantischen abgeschrägten Palastwand statt (Bühnenbild: Heinz Balthes). Bedrückend und belastend wirkt dieses Bild. Hier muss sich Oedipus nach und nach mit der erschütternden Wahrheit auseinandersetzen. Damit, dass er als Säugling ausgesetzt wurde, später unwissend seinen eigenen Vater getötet und dessen Stelle an der Spitze der Stadt Theben sowie an der Seite seiner leiblichen Mutter Jokaste eingenommen hat. Aus dieser Ehe sind in der Zwischenzeit vier Kinder hervor gegangen. Jokaste nimmt sich das Leben, Oedipus sticht sich die Augen aus und fordert die Stadtoberen auf, ihn des Landes zu verweisen. Norbert Schmittberg gelingt es in bestmöglicher Weise, diese kräftezehrende Partie auszufüllen. Die Partitur lässt ihm kaum einmal Zeit, um Atem zu schöpfen, immer muss er voll aussingen und das zudem noch in den höchsten Registern.

Die „Antigonae“-Vertonung, die 1949 in Salzburg uraufgeführt wurde, kommt den gängigen Erwartungen an ein Musiktheater schon etwas näher. Auch, weil hier das mit vier Klavieren und einem umfangreichen Schlagwerk besetzte Orchester lautmalerischer eingesetzt wird. Hier, wie am Abend zuvor gelingt Stefan Blunier im Graben eine ausgesprochen differenzierte Gestaltungsleistung, die auf ein tiefes Eindringen in die konzeptionellen Grundlagen des Werkes schließen lässt. Nach Oedipus’ Verbannung und dem Tod seiner beiden verfeindeten Söhne, ist Kreon, Jokastes Bruder, König von Theben geworden. Er verbietet die Bestattung des Oedipus-Sohnes Polyneikes, den er zum Staatsfeind erklärt hat. Dessen Schwester Antigonae hält sich nicht daran und wird zum Tod verurteilt. Kreons Sohn Hämon, der mit Antigonae verlobt ist, nimmt sich daraufhin das Leben, ebenso seine Mutter Eurydice. Mittlerweile ist aus dem glänzenden Palastwand eine raue, zerbröckelnde Mauer geworden, die am Ende in ein rotes Licht getaucht ist. Der Zerfall des Herrschergeschlechts wird überdeutlich. Andreas Daum verleiht der Zerrissenheit des Kreon in erschütterndem Maße Gestalt, Katrin Gerstenberger ist als charakterfeste Antigonae zu erleben. Bestechend präzise und effektvoll auch die Leistung des Herrenchores.

John Dew ist die Zumutung geglückt, auch weil er nicht versucht hat, mit seiner Inszenierung in das Geschehen einzugreifen.

Veröffentlicht unter anderem in der Frankfurter Neuen Presse und im Main-Echo

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