Sonntag, 24. September 2006

Uraufführung von Anno Schreiers Oper "Kein Ort. Nirgends" nach Christa Wolf

Der Raum ist die Bühne. Kein Ort bleibt unbespielt. Die Ensemblemitglieder stehen vor ihren Portraits an der Wand, jagen sich quer durch den Raum, nutzen die Ausgänge für Auftritte und Fluchten. Selten bekommt der Zuschauer einen derart unmittelbaren Zugang zum Geschehen, ohne zwanghaft selbst daran beteiligt zu werden. Bei der Uraufführung von „Kein Ort. Nirgends“ von Anno Schreier nach der gleichnamigen Erzählung von Christa Wolf wird wahrlich kein museales Schaustück geboten.

Im Gegenteil: Das Museum teilt sich selbst mit. Denn Regisseurin Anna Malunat hat ganz bewusst den Zeitsprung gewählt. Historisiertes Mobiliar von 1804, dem Handlungszeitpunkt, trifft auf ein Honecker-Portrait um 1979, dem Entstehungsjahr der Erzählung. Heutig sind die beiden Statistinnen, die mal mit dem Staubwedel hantieren, mal aus einer riesigen Einkaufstasche Bücher hervorholen oder sich zwischen den Zuschauern auf kleinen Campinghockern niederlassen und sich das Treiben aus der Nähe anschauen.

In „Kein Ort. Nirgends“ verhandelte die Schriftstellerin Christa Wolf einst ihre eigenen Enttäuschungen am Exempel zweier junger deutscher Literaten kurz nach der Französischen Revolution. Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist sind mit ihrer Verzweiflung radikal umgegangen und haben sich in jungen Jahren selbst getötet.

Ebenso wie die Musik Anno Schreiers wirkt das szenische Experiment erstaunlich schlüssig. Das Libretto von Christian Martin Fuchs reduziert die Literaturvorlage auf wenige kraftvolle Dialoge und einige etwas entrückt wirkende Selbstgespräche. Diese Zurücknahme geht auf. Die fiktive Begegnung zwischen Karoline von Günderrode und Heinrich von Kleist inmitten einer bürgerlich distinguierten Gesellschaft im Haus der Brentanos steht dabei gar nicht mal so sehr im Vordergrund. Es sind die oft floskelhaften Eitelkeiten innerhalb dieser Szene, die ins Auge springen. Die Charaktere sind nicht mehr wandlungsunfähig, haben sich in ihrer Selbstverliebtheit verfahren. Brentano fabuliert über Kunst, Savigny stimmt ihm tumb zu, während seine Frau Gunda mit fast autistischer Vehemenz um die Rettung einiger Überreste ihrer Ehe kämpft.

Anno Schreier wurde in dem Jahr geboren, in dem Christa Wolf die Erzählung geschrieben hat. Der Aachener Komponist hat eine packende Tonsprache gefunden, die sinnliche und abstrakte Aspekte lebhaft in sich vereint. Musikalische Motive sind eindeutig einzelnen Charakteren zuzuschreiben, doch nicht nur in dieser Formalität kann Schreier überzeugen. Keine Wendung wirkt konstruiert, weder barocke Anleihen noch Rossini-Zitate oder atonale Momente sind hier fehl am Platz.

Für das Ensemble ist die Aufgabe enorm dicht. Denn die Protagonisten müssen lückenlose Präsenz zeigen, auch wenn sie nicht direkt am Geschehen beteiligt sind. Diana Schmidt ist als Karoline von Günderrode in eine unwirkliche, geisterhafte Rolle geschlüpft, die bereits im Leben tot wirkt und nur selten noch einmal aufbegehrt. Als Heinrich von Kelist wandelt auch Patrick Pobeschin bereits zwischen den Welten, bis er gemeinsam mit der Leidensgenossin im offenen Sarg aus dem Raum rollt. Daniel Jenz zeichnet klar konturiert den Clemens Brentano, Sonja Gornik ist als dessen Schwester Bettine stimmlich wie szenisch bestens in Form. Florian Rosskopp gibt einen oft belehrend wirkenden Savigny, Arthur Pirvu ist als formalistischer Hofrat Wedekind zu erleben. Sarah Kuffner komplettiert das Ensemble als oftmals bizarre Gunda, gern in rot. Das Orchester unter der Leitung von Thomas Dorsch spielt engagiert und pointiert auf, forciert damit die stets zwischen Übermut und Depression schwankende Stimmung.

Für die Aufführungen in der Brentano-Scheune sind keine Karten mehr erhältlich. Ab dem 14. Oktober wird die Produktion in abgewandelter Inszenierung am Kleinen Haus des Staatstheaters Mainz übernommen.

In unterschiedlichen Varianten veröffentlicht u.a. im Wiesbadener Kurier/ Tagblatt, Allgemeine Zeitung Mainz, Darmstädter Echo, Neues Deutschland

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