Mittwoch, 13. September 2006

Opernprojekt: "Kein Ort. Nirgends" nach Christa Wolf im Rheingau und in Mainz (Vorschau)

Alle kommen sie zurück nach Oestrich-Winkel. Der Rechtsgelehrte Friedrich Carl von Savigny, Clemens Brentano mit Schwester Bettine und vor allem Heinrich von Kleist und Karoline von Günderrode. Die junge Dichterin aus niederem Adel hatte sich in den jüngeren Savigny verliebt, der sie in die Gesellschaft einführte. Goethe und Brentano waren von ihrer Kunst sehr angetan. Eine spätere Liebe brachte sie zwischen den Philologen Friedrich Creutzer und dessen Frau. Als er sich schließlich von der jüngeren Geliebten lossagte, erstach sie sich vor genau 200 Jahren in Winkel.

Der Genius loci brachte Christa Wolf 1979 bereits zu ihrem Essay „Kein Ort. Nirgends“. Hierin skizziert sie eine fiktive Begegnung im Haus der Brentanos zwischen Karoline und Heinrich von Kleist, der fünf Jahre nach ihr Selbstmord begang. Die Erzählung wirkt wie ein einziger Monolog voller innerer Konflikte, Ausweglosigkeit und Unangepasstheit, der ständig die Erzählerperspektive in fließenden Bewegungen wechselt. Eine Vorlage, die der Librettist Christian Martin Fuchs und der Komponist Anno Schreier nun für eine Oper verwendet haben.

„Kein Ort Nirgends“ wird in der Brentano-Scheune am authentischen Ort uraufgeführt. Auf der Bühne stehen junge Sängerinnen und Sänger der internationalen Sommerschule „Singing Summer“, die in diesem Jahr bereits zum dritten Mal an der Mainzer Musikhochschule ausgerichtet wird. Nach den Aufführungen im Rheingau wird die Produktion Mitte Oktober in den Spielplan des Mainzer Staatstheaters übernommen.

„Kleist und Günderrode präsentieren trotz der historischen Folie zwei Künstler, mit den Brechungsfaktoren der Jahre 1804, 1979 und 2006“ erläutert Christian Martin Fuchs sein Interesse an dem Stoff. „Die Originaltreue ist eine mentale: das Schweigen im Lärm, die Einsamkeit in der Betriebsamkeit, das Erblinden im grellen Licht der Öffentlichkeit sind Momente, die heute gelten wie immer“, stellt er einen historisch-sozialen Bezug her.

Der Komponist hingegen spricht von der Herausforderung, „kompositorisch sozusagen in Kleists Kopf hineinzukriechen“ und die „fratzenhafte Bedrohlichkeit“ seiner Umgebung wiederzugeben. „Dabei erlaube ich mir durchaus, kompositorisch auf die eine oder andere Art über die Stränge zu schlagen: denn im Sinne der Unterhaltung ist auf dem Theater jedes Mittel recht“, führt er aus. Der 1979 geborene Komponist hat bei Manfred Trojahn und Hans-Jürgen von Bose studiert und bereits früh Kompositionswettbewerbe gewonnen.

Dass für einen inhaltlich wie historisch derart bedeutungsschweren Stoff ausgerechnet ein junges Ensemble verpflichtet wurde, wirkt nur auf den ersten Blick befremdlich. Denn die Protagonisten der Handlung sind zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in ihren Zwanzigern und stehen eigentlich am Anfang viel versprechender Karrieren. Karoline von Günderrode brachte mit 24 unter dem Pseudonym „Tian“ ihre „Gedichte und Phantasien“ heraus, Kleist vollendete seinen „Zerbrochenen Krug“ im Alter von 29 Jahren.


Die Premiere findet am 22. September um 20 Uhr in Anwesenheit von Christa Wolf in der Brentano-Scheune (Hauptstraße 143 a) statt. Weitere Aufführungen am 24. September, 11 Uhr und am 26. September, 20 Uhr. Ab dem 14. Oktober wird die Produktion in den Spielplan des Staatstheaters Mainz übernommen. Der Eintritt für die Veranstaltungen in Oestrich-Winkel ist frei, jedoch nur nach Anmeldung möglich. Telefon: 06131-2851222

Am 21. September kommt Christa Wolf um 20 Uhr zu einer Lesung und einem Podiumsgespräch mit der Schauspielerin Anke Sevenich und dem SWR-Moderator Martin Lüdke in die Brentano-Scheune. Die Veranstaltung beginnt um 20 Uhr. Karten sind im Vorverkauf (01805-743464) für acht, an der Abendkasse für elf Euro erhältlich.

Veröffentlicht im Wiesbadener Kurier / Wiesbadener Tagblatt

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