Freitag, 15. September 2006

Gerhild Steinbuchs "Kopftot" in Mainz

Drei neue Gesichter präsentierte das Mainzer Staatstheater nun seinem Publikum. Zwei davon, Julia Kreusch und Friederike Bellstedt waren dem neuen Intendanten Matthias Fontheim aus Graz gefolgt, der 23-jährige Daniel Seniuk ist in dieser Spielzeit vom Schauspiel Hannover nach Mainz gekommen. Gemeinsam mit Thomas Marx nahmen sie sich nun in der kleinen Experimentierbühne des Staatstheaters, dem „Theater im Centrum“ einem Stück von Gerhild Steinbuch an.

„Kopftot“ ist die Geschichte eines Fluchtversuchs. Die junge Ophelia (Julia Kreusch) ist darin hin- und hergerissen zwischen Realität und Fiktion. Ihr Leben ist aus den Fugen geraten. Die Mutter (Friederike Bellstedt) ist gestorben, der Bruder (Daniel Seniuk) nicht auf die Welt gekommen, die Rolle des Vaters (Thomas Marx) bleibt merkwürdig undurchsichtig. Er ist Gefängniswärter der Realität ebenso wie Liebhaber im Traum. Zumindest Teile von ihm. Gleißendes Licht markiert zu Anfang noch die Übergänge zwischen den Welten, doch gegen Ende verschwimmen sie immer ungreifbarer.

Die behutsam verstörende Inszenierung von Julie Pfleiderer setzt auf sanfte, aber wirkungsvolle Bilder. Manchmal konterkariert sie diese Stimmung mit brachialer Lust am Absurden. In ihrer Parallelwelt lässt Ophelia den Bruder zunächst im bizarren Hasenkostüm auftreten, die Mutter entsteigt einer Einkaufstasche und kreist auf Inlinern umher.

All das kann aber über die bedrückende Schizophrenie dieses Stückes nicht hinwegtäuschen. Hier werden klaffende Wunden nie ganz verheilen, das ist von Anfang an klar. „Ich kann doch nicht weg, wenn die Tür verrammelt ist“, bedeutet Ophelia ihrem Bruder. Vertrauen kann sie nicht fassen, auch nicht zu ihm. Wo hätte sie es lernen sollen? Der Vater ahnt es: „Das ist doch nicht normal“, kann ihr aber auch keine Auswege aufzeigen. Sein bürgerliches Bild von Ehemann und Familieidyll findet aber seinen verzerrten Widerhall in Ophelias zweiter Welt, sie modelliert sich einen Liebhaber aus Charakteren zusammen, die sie liebt und fürchtet.

Die oft plakative Naivität von Gerhild Steinbuchs Sprache erinnert streckenweise an Irmgard Keun „Kunstseidenes Mädchen“. Auch hier prallen Wirklichkeit und Realitätsflucht in einem eher unbedarften, früh verletzten Wesen zusammen. Je weiter das Stück voranschreitet, desto verschreckender werden die Bilder. Mutter und Bruder treiben einen bereits zuvor angedeuteten Inzest fort, Ophelia tritt schließlich ganz in das Reich ihrer toten Verwandten über. Das Ensemble nimmt sich dabei seiner Figuren mit großer Hingabe an und zieht den Zuschauer sehr unmittelbar in die Lebenswirklichkeit der Charaktere hinein.

Weitere Vorstellungen: 5., 12., 20., 21. und 29. Oktober um 20 Uhr. Kartentelefon: 06131/2851222

Veröffentlicht im Main-Echo (Aschaffenburg)

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