Donnerstag, 29. Juni 2006

Der komplette "Ring des Nibelungen" am Staatstheater Wiesbaden

Am Ende steht das Unvermeidliche. Vier Abende lang hat das Wiesbadener Staatstheater-Publikum darauf hingefiebert und nun kommt er endlich auch – der Super-GAU. Der „Größte anzunehmende Unfall“ ist auf der Theaterbühne tatsächlich ganz atomar gemeint. John Dew hat so seine ganz eigene, ja eigenwillige Deutung des „Ring des Nibelungen“ in Szene gesetzt. Zwei Mal hatte das hessische Publikum nun die Möglichkeit, den kompletten Ring in kurzer Folge hinter einander während und nach den Internationalen Maifestspielen zu sehen. Zuvor war er ihm häppchenweise von Juli 2003 an dargeboten worden. Jede Saison einen Teil des Bühnen-Festspiels.

Viel ist geschehen seit dem Vorabend. John Dew, der zuvor in Dortmund merkliche Spuren hinterlassen hatte, wurde 2004 Intendant im benachbarten Darmstädter Staatstheater, genau zur Halbzeit trat Toshiyuki Kamioka vom Pult des Staatsorchesters ab und hinterließ Marc Piollet die Aufgabenfülle, inklusive angebrochenem Ring. Doch von diesen Ereignissen war in den Komplett-Inszenierungen nun nichts zu bemerken, Piollet ist es in kurzer Zeit gelungen, Orchester und Ensemble auf seinen Kurs zu bringen und konnten nun auch in der Marathon-Aufführung Konsequenz und zupackenden Musiziergeist vermitteln.

Merkliche Ungereimtheiten muss sich allerdings die Inszenierung vorwerfen lassen. Man könnte behaupten, dass die schlichtweg notwendig sind, wenn man sich, wie Dew, auf eine derart tagesaktuelle Deutung einlässt. Wobei – aktuell war sie bereits 1981 bis 1985, als er die Inszenierung bereits in Krefeld produziert hatte. Was in Wiesbaden zu sehen war, stellte nun eine überarbeitete Fassung des 20 Jahre alten Blicks dar. Angereichert sicherlich durch die Auswirkungen von Tschernobyl und die damit dramatisch realistischer gewordene Bedrohung, als sie seinerzeit bestand.

Doch was hat das alles mit den Nibelungen zu tun? Vieles erschließt sich vielleicht erst in der „Götterdämmerung“ – dann, wenn die alte Welt nach einem kurzen Atompilz rot glühend versinkt und die neue in strahlendem blau und in einer Art Überschwemmung angedeutet wird. Dazwischen ringen Alternative Aktivisten (Siegmund, Siegfried), mondäne Uniformierte (Hunding, Hagen) und Piloten von Flugzeug-Geschwadern (Walküren) miteinander um die Macht. Wotan ist ein glatter Geschäftsmann, dessen ewig nörgelnde Gattin Fricka ihm in der „Walküre“ den Tod Siegmunds abtrotzt und den bis dahin so mächtigen Herrscher damit ins emotionale Elend stürzt. Dazwischen stecken im Bühnenbild von Peter Schulz gefällige Details. Im Schaukasten räkeln sich bigotte Herren von Wotan bis zum Gibichungen Gunther in Designer-Büros. Hunding hingegen führt mit Sieglinde ein bieder stilisiertes Kleinbürgerdasein des zeitgemäßen Vasallen (hier in Bundesgrenzschutz-Uniform) zwischen furniertem Wohnzimmermöbel und Einbauküche, in das Siegmund als linksalternativer Lichtblick für die im öden Ehehafen gestrandete Sieglinde platzt. Der inzestuöse Moment geht dabei leider etwas verloren.

Und Siegfried zieht zuvor todesmutig nicht etwa gegen den furchterregenden Lindwurm zu Felde, sonder stellt sich mit Blumen gegen einen hereinrollenden Panzer. Gegen den hätte er mit dem zum Springmesser geschrumpften Nothung ohnehin nicht viel ausrichten können. Wunderlich traditionell zieht Wotan übrigens mit einem tatsächlichen Speer durch die Lande, wenn der zunächst auch erst einmal als museales Relikt in einer Vitrine aufbewahrt steht.

Im Mittelpunkt immer die mächtige Weltesche, die an allen Abenden präsent ist, aus der eine fettleibig ausgestattete, dafür „nackte“ Erda entsteigt und die in der Götterdämmerung schließlich, von Wotan gefällt, nur noch als bizarrer Stumpf zu erkennen ist. Es sind gewaltige Bilder, die sich nicht immer auf den ersten Blick offenbaren und in ihrer oft hintersinnigen Kühnheit nach und nach überzeugen. Dass oft versucht wird, mit Mitteln des Films zu arbeiten, wirkt dagegen eher bemüht als gelungen. Der „Atompilz“ kann nur eine enttäuschende Verpuffung sein, auch das zarte Grün, das nach dem Untergang aus der Esche hervor sprießt, bettelt förmlich nach dem Fokus der Kamera.

Während die Premieren zwischen 2003 und 2005 noch mit Ausnahme des Rheingolds im Publikum arge Unmuts-Äußerungen hervorriefen, schienen sich die Zuschauer in den beiden Komplett-Darbietungen an die Inszenierung gewöhnt zu haben. Nur selten schlich sich einmal ein „Buh“ zwischen die vielen „Bravos“.

Fast ungeteilte Begeisterung aber galt der Besetzung. Begeistern konnte insbesondere Barbara Schneider-Hofstetter, die sich als Brünnhilde vor allem in der Götterdämmerung als ungemein belastungsfähig und musikalisch überaus gestaltungsfreudig erwies. Ihrer schier zerberstenden Kraft wollte sich kaum ein Zuhörer entziehen. Andrea Baker kann als Entdeckung in der Walküren-Fricka und in beiden Waltrauden hervorgehoben werden. Die amerikanische Mezzosopranistin stellte sich in Wiesbaden in solider Verfassung und mit wohlsortiertem Timbre dar. In der Götterdämmerung konnte Wolfgang Schmidt, der Bayreuther Siegfried unter James Levine und Alfred Kirchner einmal mehr überzeugen.

Ein weiteres Festival-Gesicht stellte sich mit dem gebürtigen Bayreuther Ralf Lukas (Wotan) vor, der sowohl im Rheingold als auch in der Walküre eine hervorragende Figur machte – gar in der Götterdämmerung, in der er als bloß als stummer Wanderer kurz erscheint, gefeiert wurde. Ein unter Marc Piollet fabelhaft eingestimmtes Orchester ging schließlich an allen vier Abende bestens auf die Hörerwartungen ein und wurde mit wahren Begeisterungs-Stürmen aufgenommen.

Veröffentlicht im Nordbayerischen Kurier (Bayreuth)

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