Montag, 3. April 2006

"Peter Grimes" von Benjamin Britten am Staatstheater Mainz

Der tote Peter Grimes ist allgegenwärtig. Am Mainzer Staatstheater liegt er von Anfang an am Bühnenrand. Selten kommt jemand vorbei und legt Blumen nieder, ansonsten dient er als gar nicht mal so abstrakter Sündenbock für Chor und Ensemble. Die angedeutete Rückblende hat auch hier Einzug gehalten. Benjamin Brittens 1945 in London uraufgeführte Oper wird von Gottfried Pilz beklemmend aktuell inszeniert, ohne dabei mit allzu vordergründigen Mitteln zu arbeiten.

Vielmehr erzählt er formal recht nüchtern und in ein kühles, ebenfalls von ihm eingerichteten Bühnenbild integriert, die Geschichte von Vorurteilen, Ausgrenzungsmechanismen und fehlgeleitetem Ehrgeiz. Der Fischer Peter Grimes lebt ein von der Gemeinschaft abgesondertes Leben und wurde gerade vom Mord an seinem Gehilfen freigesprochen. Doch die Dorfbevölkerung will nicht an einen Unfall glauben. Als Grimes dem Waisenhaus erneut einen Jungen abkauft und dieser ebenfalls unter ungeklärten Umständen ums Leben kommt, wird ihm auch von seinem letzten Fürsprecher der Selbstmord nahe gelegt.

In dieser schnell erzählten Handlung stecken zahlreiche Handlungsmotive, die Gottfried Pilz hier erstaunlich plastisch aufgespürt und sichtbar gemacht hat. Immer wieder schwankt die Sympathie des Zuschauers bis hin zur Frage, ob der Volkszorn gerechtfertigt ist, nur weil er Recht hat. Die zum Scheitern verurteilten Bemühungen des geächteten Fischers, durch Leistung und damit erhofften Reichtum Anerkennung zu erlangen, scheitern notwendigerweise an der Eindimensionalität und Alternativlosigkeit der Situation.

„Je bösartiger eine Gesellschaft, desto bösartiger das Individuum“ – diese Erkenntnis hat Britten seinerzeit an der Verserzählung „The Borough“ des englischen Dichters George Crabbe, die ihm als Vorlage diente, fasziniert. Crabbe beschrieb seinen Anti-Helden selbst als „unberührt von Mitleid, unversöhnt durch Reue und unbelehrbar durch Scham“, der seinen „wilden, schreckerfüllten Wahnvorstellungen“ zum Opfer fällt. Und diese eigentümliche Faszination wird auch in Mainz mit Händen greifbar.

Neben einer durchdachten Inszenierung, die durch Christoph Schödels Videosequenzen von menschlichen Massenauftrieben gestützt wird, ist das auch einem ausgezeichnet aufgestellten Ensemble zu verdanken. In der Titelrolle kann Alexander Spemann in jedem Moment überzeugen, vermittelt die geradezu zwanghafte Mischung aus Geltungsdrang und Gerechtigkeits-Autismus und kann darüber hinaus mit ungebrochener stimmlicher Präsenz trumpfen. Als Ellen Orford, die ihm als schwesterliche Freundin und mögliche Ehefrau zur Seite steht, ist Elizabeth Hagedorn in souveräner Direktheit zu erleben. Jürgen Rust gelingt die Mensch gewordene Doppelmoral in Person des Fischers Boles erschreckend authentisch.

Unter der Leitung von Catherine Rückwardt beweist sich das Philharmonische Staatsorchester angesichts dieser ausgemacht heiklen Partitur einmal mehr in Sachen Deutungskraft und musikalischem Vermittlungswillen ebenso wie der von Sebastian Hernandez-Laverny einstudierte Chor.

Veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse

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