Montag, 22. Juni 2009

Interaktiver "Faust" endet in der Gaskammer

Dr. Heinrich Faust hat keine Lust zu feiern. Ohnehin ist der Vielgelehrte ein Misanthrop, der kein Interesse an gesellschaftlichen Ereignissen zeigt. Das kümmert seinen „Famulus“ Fritz Otto Wagner, wenig. Er ist fest entschlossen, seinem Meister ein Fest zum 60. Geburtstag auszurichten und wenn alles klappt, ihm auch noch eine Ehefrau zu verschaffen. Wir schreiben das Jahr 1929, befinden uns in der Oberen Webergasse 43 und treffen auf eine illustre Gesellschaft aus Bürgerlichen und deren Personal. Heinrich Faust, der Name ist nicht zufällig gewählt, gefällt sich in der Rolle des entrückten Mann des Geistes, der sich scheinbar von nichts Weltlichem so recht begeistern lässt. Sein diensteifriger Gehilfe wittert im aufkeimenden Nationalsozialismus seine Chance, endlich die Anerkennung zu finden, die ihm das Leben bislang versagt hat.

Wieder einmal ist dem Team vom „Künstlerhaus 43“ eine besondere Form des interaktiven Theaters gelungen, in dem Goethe-Texte vom „Faust 1“ mit zeitgenössischen Anleihen verwoben werden. Da erscheint ein schottischer Offizier mit jüdischen Wurzeln, der der britischen Besatzungsmacht angehört, aber bloß „ein wenig aufpassen“ möchte. Bald wird er zum Opfer der bereits jetzt faschistisch umhauchten Festgemeinde, ebenso wie seine Schwester Margarete, die später wie aus dem Nichts erscheint und den Faust für sich gewinnt. Der ersticht mit Mephistos Hilfe den eifersüchtigen Bruder, Margarete wird wegen „Blutschande“ eingelocht. Gemeinsam mit Faust verendet sie in ihrer Kammer, umfangen von hellem Rauch. Augenblicklich wird klar, was damit angedeutet wird. Zuvor aber wird bürgerlich-heiter mit leicht dekandenten Noten gefeiert. Dafür sorgt Sophie Eisenhof, eine Schauspielerin, die sich in eine teuflische Verführerin verwandelt und Fausts Weg in den Untergang bestimmt.

Das Publikum bleibt nicht unbeweglicher Zeuge, sondern nimmt unmittelbar als Gästeschar teil, wird verköstigt und nimmt am Tanz teil, wird von den Akteuren angesprochen und integriert. Möglich ist das nur mit einem ausgesprochen präsenten Ensemble, das weit mehr zu leisten hat, als in einer vorgegebenen Rolle zu bleiben. Gottfried Herbe, langjähriges Mitglied des Wiesbadener Staatstheaters, verleiht dem Faust eine würdevolle Note, gleichsam gelingt es ihm, dessen mehrfache Wandlung plastisch und erlebnisreich zu vermitteln. Ariane Klüpfel ist seine gefährlich sinnliche Verführerin, deren Charme wohl nicht nur er erliegt und die mit grausigem Knurren mögliche Widersacherinnen wegbeißt. Wolfgang Vielsack gibt mit hündischer Untertänigkeit den Fritz Otto Wagner, dessen Stunde gekommen ist, als er Judensterne verteilen darf. Mario Krichbaum beweist Vielseitigkeit, muss nicht nur mit schottischem Akzent sprechen, sondern sich später bellend Gehör verschaffen, weil ihn der Geist, der stets verneint, kurzfristig unschädlich gemacht hat. Thordis Howe schließlich ist eine zerbrechliche Margarete, wie sie im Buche steht.

Weitere Aufführungen: am 25., 26., 27., 28. Juni sowie 4., 10. und 11. Juni, jeweils 19 Uhr
Karten kosten 33, ermäßigt 28 Euro
Tickets unter www.kuenstlerhaus43.de oder bei der Tourist Info Wiesbaden

Veröffentlicht im Wiesbadener Tagblatt
Fotos: Susanne Müller

Keine Kommentare: