Freitag, 2. März 2007

Grigori Frids Mono-Oper "Das Tagebuch der Anne Frank" am Darmstädter Staatstheater

Anne ist ein ganz normales Mädchen. Sie schwätzt im Unterricht, weil das so eine weibliche Eigenschaft ist, wie sie herausgefunden hat. Außerdem ist das ein Erbteil der Mutter. Sie spielt munter auf der Straße, hat Kindereien im Kopf. Aber sie weiß schon da, dass sie sich irgendwann einmal verstecken muss. Denn Anne Frank ist Jüdin im Juni 1942. Keine gute Zeit für ein Kind, das verfolgt wird und zunächst nicht genau weiß, warum. Der russische Komponist hat aus ihrem Tagebuch Ende der 60er Jahre eine Mono-Oper geschrieben, die allerdings erst 1972 in Moskau uraufgeführt werden konnte. Am Staatstheater Darmstadt hatte sie nun unter der einfühlsamen Regie von Bettina Geyer Premiere.

Die junge Regisseurin zeichnet ganz bewusst die Entwicklung eines jungen Mädchens nach, das kaum Kindheit erlebt und rasch erwachsen wird. Sie macht alles im Schnelldurchlauf durch. Ängste, Wünsche und Unsicherheiten gleichermaßen. Die naive Liebelei mit Leidensgenossen Peter, die schrecklichen Träume und Ahnungen vom nahenden Konzentrationslager. Aber auch den grotesken Ehekrach der van Daans. Sopranistin Susanne Serfling, die seit vergangener Spielzeit am Haus engagiert ist, stellt ihre Darstellung ganz in den Dienst ihrer Rolle, die ständigen Veränderungen unterworfen ist. Sängerisch ist sie dieser herausfordernden Daueraufgabe mühelos gewachsen, sie hält die Spannung bis zum Schluss.

Die Inszenierung kommt ohne Kulisse aus, die schafft sich die Solistin hier selbst. Mit Kreide zeichnet sie Szenenbilder und emotionale Codes auf die Podestbühne, an Säulen und Wände. Dadurch entsteht nach und nach ein vielfältiges Psychogramm, das die musikalischen und darstellerischen Situationen unterstreicht. Aber auch die Kargheit und Tristesse, die Annes Kindheit am Ende prägen. Sie zeichnet sich ihr enges Zimmer, ihr Bett, auf das sie hier kaum passt. Am anderen Ende sind die Erinnerungen an bürgerliches Idyll aufgemalt. Präsent und doch unerreichbar.

Die 21 Sätze der Mono-Oper gehen fließend ineinander über, manchmal dreht Bettina Geyer die Perspektiven. Der Bericht vom Frontverlauf in Russland ertönt krächzend in Weltempfänger-Qualität aus dem Off, während Anne Zwiebeltürme an die Säule malt. Immer wieder wird auch die quälende Langeweile bedrückend in den Vordergrund gerückt. Anne zählt die ereignislosen Tage, deren Höhepunkte von der Furcht vor Entdeckung geprägt werden.

Die Produktion in den Kammerspielen gelingt intim und gleichzeitig mit der notwendigen Distanz. Die Regisseurin macht sich nicht zum Sprachrohr der berühmtesten Tagebuchschreiberin der Welt. Sie lässt, so wie es das Werk vorsieht, Anne für sich selbst sprechen. Am Klavier steckt der griechische Pianist Konstantinos Kalakonas mehr als nur den musikalischen Rahmen ab. Er vermittelt auf technisch hohem Niveau die oft sperrig wirkende Musik in einer unmittelbaren und immer direkt ansprechenden Art. Auch dank seiner musikalischen Leitung gelingt hier ein feinsinnig ausgearbeitetes Werk, das an keiner Stelle in wohlfeile Betroffenheitsgesten verfällt. Es erzählt die Geschichte eines individuellen Schicksals, wie es von den Nationalsozialisten millionenfach verursacht wurde.

Veröffentlicht in der Frankfurter Neuen Presse

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